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Kein Aspirin für harte Arbeit

■ Die erste »Internationale Michail Tschechow Tagung« organisiert ein Berliner Freies Theater

Marylin Monroe nannte ihn den »brillantesten Mann, den ich kannte«, Yul Brunner und Anthony Quinn haben von seiner Schauspieltechnik profitiert. Michail Tschechow (1891-1955), selbst Stanislawski-Schüler, beschäftigte sich neben seiner Arbeit als Schauspieler und Regisseur vor allem mit schauspielmethodischen Fragen. Angeregt von den Lehren Rudolf Steiners entwickelte Tschechow eine Technik, deren Übungen dem Schauspieler als eine Art »seelisches Handwerkszeug« zur Verfügung stehen sollen. Nach seinem Tod gerieten die Lehren Tschechows zunächst in Vergessenheit. Als sein Methodenband »Die Kunst des Schauspiels« in Amerika und England aufgelegt wurden, begann eine neue Tschechowrezeption, die in jüngster Zeit auch in Rußland wieder offiziell aufgegriffen wurde.

Das Theaterforum Kreuzberg veranstaltet nun vom 9. bis 29. August die erste Internationale Michael Tschechow Tagung (IMTT). Das Programm umfaßt Workshops, Arbeitsdemonstrationen und die Fachtagung für Tschechow-Experten und Interessierte. Mit Jobst Langhans, Gremiumsmitglied des Theaterforums Kreuzberg und IMTT-Organisator (»Stand by für alle Fälle«) sprach Anja Poschen.

taz: Wie entstand die Idee, eine internationale Tschechow-Tagung zu organisieren?

Jobst Langhans: Aus ganz einfachen egoistischen Motiven. Wir wollten wissen, wie es die alten Hasen machen. Man arbeitet jahrelang an dieser Methode und hört immer von der einen oder anderen Koryphäe. Und die haben sich bis heute noch nicht ausgetauscht.

Wie finanziert sich die Tagung?

Die ganze Geschichte ist ein ziemliches Kamikaze-Unternehmen. Sie kostet ein Schweinegeld, das wir durch Tagungsbeiträge und Sponsoren versuchen zusammenzubekommen. Vor einem Jahr haben wir angefangen, die ersten Dozenten anzuschreiben, und dann passierte erst einmal gar nichts. Los ging es — ganz plötzlich — im Februar dieses Jahres. Ich weiß nicht, wie die Kommunikationsstrukturen zum Beispiel in Rußland funktionieren. Da sagt man in Minsk »Hüh« und zwei Tage später wissen das alle in Ulanbator (Sibirien). Wir haben streckenweise aus Rußland erfahren, daß wir eine Tagung machen. Das ist verrückt. Irgendwann kamen so viele Anfragen, daß wir uns dann tatsächlich zur Durchführung entschlossen haben.

Was erhoffen Sie sich von den Veranstaltungen?

Wir haben uns eine bewegliche Tagung vorgestellt. Für Leute, die diese Übungen nur aus der Literatur kennen, zum Beispiel. Und da ist wichtig, daß diejenigen, die Tschechow noch kannten, zeigen und erzählen, wie sie es wirklich erlebt haben. Alle, die wir zu der Tagung eingeladen haben, machen vielleicht ein Drittel derjenigen aus, die mit der Tschechow-Methode arbeiten. Wir nutzen die Möglichkeit, ihre Aspekte zusammenzuführen. Es kommen auch aus aller Welt Interessenten, aus Skandinavien, aus Amerika, Neuseeland, Sibirien und aus Irland.

Verglichen mit anderen Theatermethodikern wie Brecht, Stanislawski oder Strasberg ist Tschechow nahezu unbekannt. Können Sie kurz zusammenfassen, wer Michail Tschechow war und was seine Methode ausmacht?

Tschechow war 16 Jahre Schauspieler am Moskauer Künstlertheater und hat da unter Stanislawski gespielt. Er hat, wenn man so will, die Stanislawski-Methode mit ausgebrütet — als Schauspieler, mit dem Experimente durchgeführt wurden. Dann allerdings kam er in die Psychiatrie. Ich nehme an, dieser Aufenthalt in der Klinik und noch eine Menge anderer Umstände — daß er die Antroposophie kennengelernt hat, zum Beispiel — haben ihn dazu gebracht, über einen anderen schauspielerischen Weg nachzudenken. Er entwickelte als Leiter des Zweiten Moskauer Künstlertheaters neben Wachtangow und Meyerhold seine eigene Methode. Später mußte er nach Wien emigrieren, dann nach Berlin zu Max Reinhardt. Nach einem für ihn erfolglosen Aufenthalt in Paris ist er schließlich in Amerika gelandet. Von dort aus gründete er auch eine Schauspielschule in England. Seinen Lebensabend verbrachte er in Hollywood und am Broadway.

Was ist das Besondere an Tschechows Methode?

Um das zu erklären, vergleiche ich ihn am besten mit Stanislawski. Seine Methode geht von einer Voraussetzung aus: Der Schauspieler soll sich selbst in der vorgegebenen Situation spielen. Verwandlungsspiel, glaubte er, müsse aufgesetzt sein. Stanislawski wollte eine authentische Empfindung und Wahrhaftigkeit auf der Bühne haben. Und seine Methode ist heute überall verbreitet. Wenn man sich irgendwo als Schauspieler bewerben will, interessiert nicht, daß man sich verwandeln kann. Die persönlichen Macken werden vermarktet: Ein langer Dicker wird gebraucht oder ein dünner Blonder. Ich, zum Beispiel, war immer der Bösewicht, wurde als Faschist auf der Bühne verhökert. Warum, weiß ich auch nicht. Und es ist natürlich auf Dauer ein bißchen frustrierend, keine Chance zu haben, mal etwas anderes zu spielen.

Tschechow hat versucht, andersherum zu denken. Im Grunde reagierte er auf eine uralte Forderung von Aristoteles: Der Schauspieler soll ein Nachahmungskünstler sein, in eine Figur hineinschlüpfen, sich in sie hineinversetzen und sie auch äußerlich imitieren. Tschechow selbst ist in Moskau dafür bekannt gewesen, daß er besonders gut alte Leute spielen konnte. Als Fünfundzwanzigjähriger hat er achtzigjährige Greise gespielt und das so faszinierend und überzeugend, daß ihm das einen Riesenbekanntheitsgrad eingebracht hat. Er pflegte also ganz eindeutig das Verwandlungsspiel.

Was für eine Rolle spielt dabei die Antroposophie?

Das ist eine hochkomplizierte Frage. Nun: Ein inspirierter Musiker hört die Musik schon, bevor er sie komponiert. Michelangelo ist in den Marmorsteinbrüchen herumgekraxelt und hat das, was er da herausarbeiten wollte, vorher gesehen. Und Charles Dickens soll jeden morgen auf den Besuch von Oliver Twist gewartet haben. Jeder Normalbürger würde an dieser Stelle eingeliefert werden. Ein Künstler hat da eben Ausnahmezustand. Er imaginiert etwas vor seinem inneren Auge und tut im Prinzip nichts anderes, als das abzuschreiben, -zuspielen oder -zumalen, was in seiner Fantasie passiert. Und das ist, was Tschechow und auch die Antroposophen vertreten: Die imaginierten Figuren sind eigenständige Wesen, mit denen man einen richtigen Dialog führen kann. Den Figuren fehlt nur der physische Körper. Um sichtbar zu werden, brauchen sie den Schauspieler. Das nennt Tschechow »Imagination und Verkörperung«.

Warum geriet seine Methode in Vergessenheit?

Er hatte eine ganze Menge Schüler, die von ihm schwärmten, von Marilyn Monroe über Yul Brunner bis zu Anthony Quinn. Das Paradoxon ist, daß seine Methode trotzdem so gut wie unbekannt blieb. Es wurden keine Werke herausgegeben — damit fängt man jetzt erst richtig an. Ich würde vermuten, das hängt mit Vorurteilen gegenüber den Anthroposophen zusammen. Da tun sich viele schwer mit, was ich auch verstehe. Es wird nicht differenziert, alle kommen in einen Topf, Theorie und Praxis sind eine Mansche. Darin verschwand auch Tschechow.

Außerdem funktioniert die Strasberg-Methode zum Beispiel einfach schneller. Die wirkt wie ein Aspirin. Tschechow ist jahrelange, harte Arbeit.

Weshalb findet jetzt gerade eine Tschechow-Renaissance statt?

Das hängt mit der Öffnung der Moskauer Archive zusammen. Seit Perestroika und Glasnost kommt man an die Originaltexte heran. Vorher hatte nur Georgette Boner, die Regisseurin, die mit ihm in Paris zusammenarbeitete, das englische Originalwerk »To the actor« übersetzt und in einer verkürzten deutschen Fassung herausgegeben.

Und Tschechow wurde von den russischen Schauspielern nicht vergessen. Es gibt noch sehr viele, die ihn persönlich kennengelernt haben. Einige von ihnen kommen auch zur Tagung. Und die wollen ihn wiederhaben, denn Tschechow-Arbeit konnte man nach dessen Emigration höchsten noch im Untergrund betreiben. Die rennen uns jetzt auch die Bude ein.

An wen richten Sie die Tagung noch? Wer kann oder sollte an ihr teilnehmen?

In erster Linie Berufsschauspieler. Einige sehr interessante Leute von der Schaubühne, der Freien Volksbühne und von Peter Brook aus England nehmen teil. Es kommen auch Pädagogen und Psychologen, da man die Tschechow-Übungen ebenfalls für ihren Bereich verwenden kann. Aber die müssen die Übersetzungsmethoden — den Brückenschlag zwischen Therapie und Schauspiel — für sich selbst finden. Und natürlich werden sich die Theaterwissenschaftler schlagen: Alexej Bagdasarow, ein Dozent aus Moskau, kommt, der Hirsig von der HdK und viele andere. Das ist möglicherweise der spannendste Punkt: Die Experten haben die Möglichkeit zu einem Austausch untereinander.

Planen Sie für die Zukunft regelmäßige Tschechow-Tagungen?

Wir haben für 1993 vor, diese Tagung in Moskau in Zusammenarbeit mit dem Moskauer Theaterlaboratorium Schauspieltechnik, das dieses Jahr auch kommen wird, zu wiederholen. Aber das ist erst eine Idee.

Für Tagungsinteressierte: Anmelden kann man sich bis zum letzten Tag. Die Teilnahme am gesamten Programm kostet 1.520 DM. Es besteht die Möglichkeit, an einzelnen Workshops teilzuhaben oder Tageskarten zu kaufen. Die Kosten dafür sind gestaffelt. Weitere Informationen erteilt das Theaterforum: Tel. 6182805.

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