: PILGER, HAUSIERER UND TOURISTEN
■ Reisen durch die Jahrhunderte: Aspekte der Reisekultur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Eine Buchbesprechug
Reisen durch die Jahrhunderte: Aspekte der Reisekultur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Eine Buchbesprechung
VONEDITHKRESTA
Das Reisen als „unschuldigste Leidenschaft des Menschen“ hat längst seine Unschuld eingebüßt, seit es zum Massentourismus unter der Regie gewinnorientierter Reisekonzerne mutierte. In der mobilen „postmodernen“ Gesellschaft gehören Geschwindigkeit und Ortsveränderung zum wenig spektakulären Alltag, der jet-lag zur Welterfahrung. Massenhaftigkeit, Geschwindigkeit und Serienmäßigkeit sind konsequente Weiterentwicklung der bürgerlichen Reiselust, die mit der technischen Revolution der Verkehrsmittel erst richtig zum Zuge kam. Unbegrenzte Mobilität ist die Voraussetzung unserer modernen Reisekultur, deren historische Vorläufer langsamer und unbequemer, aber dafür vielfältiger und vielleicht aufregender daherkamen.
„Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus“ hat sich einiges verändert, nicht nur in der technischen Entwicklung, sondern auch in den Köpfen der Menschen. Das Buch „Reisekultur“ skizziert die unterschiedlichsten Reisearten und Motive in diesem Zeitraum. Es ist eine Textsammlung der verschiedensten Autoren, die teilweise etwas dröge wissenschaftlich, dafür um so seriöser geraten ist. Reisende unterschiedlichster Herkunft und Ziele werden dem Leser präsentiert: Pilger, Handwerker, Hausierer, Vaganten, Musiker, Entdecker, Auswanderer, Italophile, Kurende, Wißbegierige und Wissenschaftler, Wandersburschen und naturbesessene Bürger, Musiker und Reisende auf dem Kanapee... Darüber hinaus werden die beliebtesten Reiseziele, die verschiedensten Transportmittel — zu Land, Luft und Wasser — vorgeführt. Das Buch beschäftigt sich mit ungewöhnlichen Aspekten des Reisens und konterkariert damit den im modernen Tourismus häufig auf Erholung verkürzten Reisebegriff.
Der Vorzug dieser Textsammlung ist sicherlich der Bauchladen voll verschiedener Themen: Skurriles wie die Texte über Gefängnis- und Irrenhaus-Bildungsreisende findet man darin ebenso wie Klassisches zwischen Kur- und Wanderbewegung. Die Leserschaft kann herauspicken, was sie interessiert, sollte aber keine historisch-zusammenhängende Darstellung der Entwicklung der Reisekultur vom Mittelalter bis heute erwarten, wie es der Titel suggerieren mag. Sie muß sich mit unzusammenhängenden Facetten zufriedengeben und sich übergreifende Entwicklungstendenzen, in den einzelnen Texten durchaus angedeutet, aus dem Bauchladen selbst zusammenpuzzeln. Die Zusammenstellung der Texte scheint darüber hinaus beliebig, eher am Spezialgebiet des jeweiligen Autors als an einem Konzept der Herausgeber orientiert.
Einfüßler, Hundsköpfige, Amazonen und Riesen
Doch dem puzzelnden Leser tun sich interessante neue Horizonte auf. Zum Beispiel im Textbeitrag „Lügen haben lange Beine“ von Wolfgang Griep, der eben den beschränkten Wahrnehmungshorizont der Reiseliteraten zum Thema hat. So gehörten die Erzählungen des englischen Ritters Mandeville zu den langlebigsten und beliebtesten der Reiseliteratur. Mandeville brach 1322 zu einer Reise ins Heilige Land, durch die Wüsten Arabiens, Nordafrikas und Indiens und weiter durch die Inselwelt Indonesiens bis an den Hof des chinesischen Großkhans auf. Seine farbigen und bunten Reiseberichte wurden in sechs Sprachen übersetzt und bis ins 18.Jahrhundert immer wieder neu aufgelegt. Generationen begeisterter Leser verschlangen Mandevilles Geschichten von Einfüßlern, Hundsköpfigen, Riesen und Amazonen. Er entsprach mit seiner überbordenden Phantasie voll und ganz der Lesererwartung, wobei nicht einmal gesichert ist, daß er es jemals bis an die Gestade des Mittelmeers gebracht hat. Marco Polo hingegen, der sechzig Jahre vor Mandeville seine unglaublichen Berichte von einer der abendländischen Kultur überlegenen mongolischen Kultur- und Wirtschaftsmacht niederschrieb, wurde als Lügner abgestempelt.
Die ewige Angst vor dem Fremden, Unbekannten
Daß Reiseberichte sehr viel mit Selbsterfahrung zu tun haben, beweist sich am Schreibtisch einer Reiseredaktion hinlänglich; zwar sind der ausschweifenden Phantasie in einer durchforsteten Welt nachhaltige Grenzen gesetzt, aber die Lust am Unglaublichen, der Nervenkitzel darf sich ja nun in künstlichen Welten oder im bestens organisierten Abenteururlaub austoben.
Das hatte man im Mittelalter, wo hinter jeder Wirtshaustür das Verbrechen harrte, nicht nötig. Wer sich im Zeitalter der Renaissance auf Reisen begab, der pflegte, sofern er kein ganz junger Mensch mehr war, vorher sein Testament zu machen. „Wer seine vertraute Welt verläßt und in die wirkliche Fremde aufbricht, erlebt ein Stück Tod“, schreibt Dieter Richter in seinem Beitrag zur „Angst der Reisenden“. „Die mythischen Gefahren der Fremde sind so das große Thema der Reiseerzählungen seit der Antike.“ Bis heute schottet man sich so gut es geht gegen das Fremde ab: der Zaun um den Club, die vertraute Reisegruppe, das organisierte Pauschalangebot, das kollektive Vorurteil.
Wie die Reisebeschreibung „kollektive Vorurteile“ und „kulturelles Hegemoniedenken“ transportiert, so gibt die Reiseform Aufschluß über die gesellschaftliche Realität der Reisenden. Von Odysseus bis zu den Hippies drückt sich darin die eigene gesellschaftliche Realität aus. So wird die unter Handwerkern übliche zweckorientierte Wanderschaft von den bürgerlichen Städtern entdeckt, im Anflug einer ersten Antibewegung gegen Verstädterung und Industrialisierung. „Die Bürger, jener vermeintlichen Urkraft und Naturnähe des einfachen Volkes nachspürend, übernehmen dessen körperliche Bewegungsform, um so im Wanderhabitus sich auch dessen Erfahrung ,sinnlich‘ anzunähern. Für die Landleute freilich meist weniger ein Zeichen von Volksverbundenheit als Anlaß zum mißtrauischen Beobachten einer bürgerlichen Marotte“, analysiert Wolfgang Kascuba die neue bürgerliche Leidenschaft. Zur gleichen Zeit kam der Spaziergang in Mode, die von Kindern gefürchtete sonntägliche Freizeitbeschäftigung deutscher Kleinfamilien bis heute.
Naturkraft und Anbetung der Technik
Doch nicht nur die Natur stilisierte das Bildungsbürgertum des 18. und 19.Jahrhunderts. Es fuhr auch zur „politischen Wallfahrt“ nach Paris, um einen Hauch des revolutionären Frankreichs einzuatmen, oder es pilgerte massenhaft zu den Weltausstellungen, wo in den neuen „Kathedralen der Industrie“ die Gottesdienste der Moderne, die Anbetung der Technik praktiziert wurde. „Programmatisch verkündete Prinz Albert bei der Eröffnung der ersten Weltausstellung in London 1851, daß ,jenes große, von der Geschichte überall angedeutete Ziel‘ in greifbare Nähe gerückt sei“, nämlich „die Vereinigung des Menschengeschlechts“. 1992 sieht man die Weltmesse der Industrie, die Expo in Sevilla, weniger pathetisch. Aber auch heute noch hofft man damit das stagnierende Tourismusgeschäft zu beleben.
Reisekultur und Reiseunkultur
Das Geschäft mit dem Urlaub ist inzwischen die Antriebsfeder unserer Reisekultur, die längst zum profitorientierten Tourismus verkommen ist. Die industriell hoch entwickelten Briten etablierten mit Thomas Cook, der 1845 das erste Reisebüro gründete, den organisierten Tourismus und schwärmten als erste massenhaft von den heimischen Seebädern an die Küsten des Mittelmeers. Resteuropa zog ihnen nach. So entwickelten sich in Südfrankreich, der Schweiz und am Rhein die ersten touristischen Hochburgen. Was lange Zeit das Privileg einer bürgerlichen Elite war, wurde zum gesellschaftlichen Allgemeingut. Der kommerzialisierte Tourismus ging Hand in Hand mit einer „Demokratisierung des Reisens“. Reisen wurde zum Statussymbol der Industriegesellschaft.
Der „Wunsch nach Grenzenlosigkeit“, wie der Mitherausgeber des Bandes, Hermann Bausinger, im Schlußkapitel die Reiselust definiert, wurde in standardisierte Formen verpackt und negiert sich somit selbst. Bausinger sieht diese Begrenztheit des grenzenlosen modernen Urlaubsrummels, aber er will uns die „schönsten Tage“ nicht vermiesen, er will nicht in die „durchaus bedenkliche Nähe der pauschalen Kritik“ geraten. So schreibt er: „Vielleicht führt uns die schlichte Beobachtung weiter, daß praktisch alle Kritiker des modernen Tourismus in der einen oder anderen Form an diesem Tourismus teilhaben. Sie ärgern sich über einiges, vielleicht über mehr als die anderen, aber wenn sie am Ende eines Urlaubs bilanzieren, dann kommen sie im allgemeinen zu einem ähnlichen Ergebnis wie alle anderen: Es war eigentlich ganz schön.“ So schlicht wie die Beobachtung ist Bausingers Schlußfolgerung: Wenn es doch allen irgendwie und irgendwo gefällt, sollte die Kritik maßhalten.
Mit Verlaub, Herr Bausinger: Die Kritik an einem Tourismus, der mit dem standardisierten und normierten Angebot zum Plagiat seiner selbst geworden ist, ist doch etwas grundsätzlicher und wesentlicher als der verständliche Unmut über ein zu hartgekochtes Frühstücksei. Wenn man über Reisekultur spricht, sollte man die Unkultur auch benennen dürfen, ohne sie, wie Bausinger, gleich wieder zurückzunehmen. Deshalb ist Reisen trotzdem schön und manchmal eben schrecklich schön.
„Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus.“ Hrsg.: Hermann Bausinger, Klaus Beyrer, Gottfried Korff, Verlag C.H. Beck, München 1991.
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