: Des Richters Elefantengedächtnis
■ Oberrichter müssen Erinnerungsvermögen beweisen/ Urteilsbegründung zu Prozeß nach Monaten
Berlin (taz) — Haben deutsche Richterinnen und Richter nun ein Elefantengedächtnis oder nicht? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, müssen sich in den nächsten Monaten die fünf obersten deutschen Gerichtshöfe zum Konklave zusammensetzen. Der Anlaß: In einem Prozeß zum AKW Brokdorf hatten sich die Richter des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg mit ihrer Urteilsbegründung mehr als fünf Monate Zeit gelassen. Der Kläger bezweifelt nun, daß sich die offenbar vielbeschäftigten Juristen nach so langer Zeit noch an jedes Detail der Verhandlung erinnern können. Hatte doch einer der Richter sogar dienstlich eingeräumt, daß er sich „angesichts des langen Zeitraums zwischen Beratung und Zuleitung des Urteils (zur Unterschrift d. Red.) nicht mehr daran erinnern kann, ob die Urteilsgründe dem Beratungsergebnis entsprechen“.
Gerade die Details der Beratung seien aber für das Urteil wichtig, so der Kläger. Wenn die Verhandlung mit ihren Plädoyers zwar das Urteil bestimmt hätte, dann aber in der Urteilsbegründung vergessen würde, sei die Urteilsbegründung juristisch unhaltbar, das Urteil anfechtbar.
Die Richter am Bundesverwaltungsgericht gingen in sich, überprüften ihr eigenes Gedächtnis und befanden: Wir können uns maximal fünf Monate lang alle Details der Verhandlung vergegenwärtigen, wie das für die Urteilsbegründung notwendig ist. Schon das ist ein stolze Leistung, verglichen mit dem rapiden Gedächtnisverlust, der manchen Zeugen bereits nach wenigen Wochen heimsucht.
Doch dann stellten die Berliner Verwaltungsjuristen mit Erschrecken fest, daß die Richter an den anderen deutschen obersten Gerichten in ihrer Jugend mehr aus den sprichwörtlichen Telefonbüchern auswendig gelernt haben müssen. Die glaubten sich jedenfalls viel länger zu erinnern. Das Bundesarbeitsgericht in Kassel und der Bundesfinanzhof sind der Meinung, daß sich RichterInnen auch noch nach mehr als einem Jahr an jedes Detail einer Verhandlung erinnern können. Und den Bundesgerichtshof passierte anstandslos ein Urteil, für das der Richter erst nach neuneinhalb Monaten seine kleinen grauen Zellen zur Urteilsbegründung bemüht hatte.
Zur Rechtsvereinheitlichung muß nun also der Gemeinsame Senat aller obersten Gerichtshöfe zusammentreten. Eine solche Versammlung von Bundesverwaltungsgericht, Bundessozialgericht, Bundesarbeitsgericht, Bundesgerichtshof und Bundesfinanzhof kommt nur alle Jahre mal vor. Die Entscheidungen des Konklaves gehen meist in die Rechtsgeschichte ein: So könnte die Klage gegen die Betriebsgenehmigung des AKW Brokdorf neu aufgerollt werden, weil Lüneburger Richter ihr Gedächtnis überschätzt haben. Hermann-Josef Tenhagen
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