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Sonderstatus für bosnische Flüchtlinge?

■ Flüchtlinge sollen keine Asylanträge mehr stellen müssen/ Kinderkonvoi aus Sarajevo?

Frankfurt/Belgrad (AP/AFP) — Flüchtlingszüge an der slowenisch- kroatischen Grenze, kranke Kinder in Sarajevo, die Angriffe auf die kroatische Flüchtlingsstadt Slovanski Brod — die „schlimmste Flüchtlingskrise seit dem 2. Weltkrieg“ hat am Wochenende erneut zu Diskussionen über eine Ausweitung der mögliche Hilfsmaßnahmen geführt. So forderte der nordrhein- westfälische Innenminister Herbert Schnoor (SPD) die Bundesregierung dringend zu „pragmatischen Lösungen“ auf: Da Bonn an der Visumpflicht für Flüchtlinge aus Bosnien festhalte, hätten diese keine andere Möglichkeit, als an der Grenze um Asyl zu bitten. In Nordrhein-Westfalen stammen daher 60 Prozent derjenigen, die im April und Mai einen Asylantrag stellten, aus Kroatien und Bosnien-Herzegowina, bundesweit sind es 40%. Weil die Schutzsuchenden aber später in ihre Heimat zurückkehren wollten, müsse ein „Flüchtlingsstatus B“ geschaffen werden, der eine befristete Aufnahme dieser Menschen ermögliche.

Soforthilfe für die Kinder in Bosnien hat Bundesaußenminister Klaus Kinkel angekündigt. Die Bundesregierung bemühe sich, verletzte Kinder und Waisen aus dem bosnischen Kriegsgebiet herauszuholen. Deutschland habe bereits mehrfach seine Bereitschaft erklärt, bislang hätten jedoch die UN-Truppen, unter deren Befehlsgewalt die Flughäfen stünden, aus Sicherheitsgründen noch keine Genehmigung erteilt.

Einen dringenden Appell an die UNO richteten auch die Regierungschef der Zentraleuropäischen Initiative. Bei einer Tagung in Wien forderte die ehemalige „Hexagonale“ am Samstag die Errichtung von Sicherheitszonen, nur so könne eine weitere Vertreibung der Bevölkerung aus den umkämpften Gebieten verhindert werden. Außerdem müsse nach Einstellung der Kampfhandlungen die Rückkehr der Vertriebenen gesichert werden. Zur Linderung der Flüchtlingsnot soll eine Zeltstadt für rund 100.000 Flüchtlinge in Kroatien errichtet werden.

Der österreichische Kanzler Franz Vranitzky sagte, die Nachbarn des ehemaligen Jugoslawiens sowie Slowenien und Kroatien hätten bereits Hunderttausende von Flüchtlingen aufgenommen. Ihre Kapazität sei erschöpft, und sie benötigten die Hilfe der Vereinten Nationen. Der kroatische Ministerpräsident Greguric verglich sein Land mit einem riesigen Flüchtlingslager. Obwohl die Regierung in Budapest angekündigt hatte, die von Kroatien abgeschobenen Menschen zurückzuschicken, fanden in den letzten Tagen 3.500 Bosnier in Ungarn Zuflucht.

Unterdessen wächst die Hilfe vor allem in Österreich: Private Organisationen und örtliche Regierungsvertreter in verschiedenen Städten Österreichs besuchten rund 800 Flüchtlinge aus Bosnien. Das Rote Kreuz verteilte in Graz Milch und Brot, die Stadt Wien gab Tee, Milch, Obst und Süßigkeiten an 250 heimatlose Frauen, Kinder und ältere Menschen aus. Die österreichische Regierung beschloß, Flüchtlingen aus Bosnien eine befristete Arbeitserlaubnis zu erteilen.

Neuer Flüchtlingsstrom wird erwartet

Zugleich muß sich Europa jedoch auf ein weiteres Anwachsen der Flüchtlingswelle vorbereiten: Nach Einschätzung der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfBV) sind allein im Nordwesten Bosniens 320.000 Moslems und Kroaten eingekesselt. Der Vorsitzende der Göttinger Gesellschaft, Tilman Zülch, der sich zur Zeit in Zagreb aufhält, kritisierte zugleich die Haltung der westlichen Staaten: „Wenn die westeuropäischen Staaten ihre Grenzen nicht öffnen, dann müssen sie schnell mindestens eine halbe Milliarde Mark zur Verfügung stellen. Sonst wird es eine Katastrophe geben.“

Zülch sprach von einer bevorstehenden Völkervertreibung der Muslime aus Bosnien-Herzegowina: „Wenn das noch Wochen so weitergeht, wird das gesamte muslimische Volk — etwa zwei Millionen Menschen — vertrieben sein.“ In Europa seien dann bleibende Konflikte wie die zwischen Palästinensern und Israelis programmiert: „Von seiten der Vertriebenen wird es sicherlich Racheakte geben.“

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