: Der Stand der Lesekultur?
■ „die horen 166“ befassen sich mit deutschen Vergangenheiten
“Immer die gleiche Frage stellte ich eines mittelschönen Frühsommertages in den fünf Buchläden meiner Heimatstadt. Die hat etwa 130.000 Einwohner, eine renommierte Hochschule, ein bedeutendes Forschungsinstitut, Einrichtungen der Lehreraus-und Fortbildung, Volkshochschule und Theater und ist vor allem Ort eines von ihren Bürgern initiierten und gestifteten Literaturpreises. Wissen wollte ich von den Buchhändlern, welche Titel aus dem Werk von Uwe Johnson sich ein interessierter Leser aus den Regalen holen lassen könnte.“ Um die Bremerhavener nicht zu beschämen, sei die immergleiche Antwort auf die Frage des leidenschaftlichen Johnson-Lesers Dietrich Spaeth verschwiegen.
Mit dem wehmütigen Seitenhieb zum „Stand der Lesekultur“ beginnt der ehemalige Leiter der Bremerhavener Lehrerausbildung seinen Literatur-Bericht zu einigen Neuerscheinungen über den 1984 verstorbenen Schriftsteller, in der neuen, von Johann Peter Tammen zusammengestellten, Ausgabe der horen. „In einer unangestrengten Sprache, dabei äußerst präzise“, wie Spaeth es an einem Autoren rühmt, sichtet er den Stand und die Debatten im Rahmen der wachsenden Johnson-Forschung. Seine Lese- Früchte könnten sogar Johnson- Neulinge ermutigen, einen Blick in die 1891 Seiten der „Jahrestage“ zu werfen.
Um deutsche Geschichte und ihre literarische oder autobiografische Verarbeitung geht es im Abschnitt „Portraits, Würdigungen und Erinnerungen“. Der Literaturhistoriker Hans Mayer wird von Ulrich Schödlbauer in einem gelegentlich unangenehm gereizten Ton als Stalin-Verherrlicher enttarnt. Stilistische und intellektuelle Schwächen, Fehlleistungen und faktische Fehler in Mayers 1991 veröffentlichter Biografie „Der Turm von Babel“ arbeitet Schödlbauert in seiner akribischen Arbeit heraus. Wenn er aber Hans Mayer rügt, nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik 1963 die Normalität der alten BRD als kleinbürgerlich „gebrandmarkt“ zu haben, kann ich ihm nicht mehr folgen.
Zu den literarischen Texten im neuen Band der horen zähle ich die Aufzeichnungen der Jüdin Edith Aron, die 1935 als Kind mit ihrer Mutter aus dem Saarland nach Argentinien emigrierte und vor zwei Jahren bei Bettina Wassmann in Bremen eine Sammlung mit spröde-zarten Erzählungen veröffentlicht hat. Jetzt stellt Ludwig Harig in den horen Fragmente aus Edith Arons Kindheitserinnerungen vor: „Sie vergewissert sich, zählt und ordnet die Reihenfolge der Häuser ihrer Straße und ihres Schulwegs, arrangiert die Sitzordnung in den Bänken ihrer Klasse, rekonstruiert die Phasen des Schreibenlernens, nennt immerzu Namen der Mosaiksteine, aus denen sie ihr Leben baut, — so als verlöre man sein Leben, wenn man vergißt.“ Edith Arons Momentaufnahmen aus der Vergangenheit sind plastisch und lebendig als wären sie Gegenwart. Eingeschrieben ist ihnen die Neugierde und eine Leichtigkeit, mit der große Literatur beginnt. hans happel
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