: „Mit unseren Schützlingen sterben“
Anschlag auf den Mafia-Ermittler Paolo Borsellino in Palermo forderte sieben Todesopfer und zwanzig Verletzte/ Wut und Hilflosigkeit bei den Eskorte-Beamten/ Spontane nächtliche Kundgebung ■ Aus Palermo Werner Raith
Carlo Belisia kann, sechs Stunden nach dem Attentat, noch immer nicht sprechen. Seine Pistole hat er, berichtet ein Kollege, seinem Chef vor die Füße geschmissen, als der etwas von „harter Reaktion des Staates“ gebrummelt hatte. Kurz danach hatte der Oberpolizist auch noch ein Bündel von Panzerwesten aufheben müssen, die sich Wachmänner abgestreift und als Zeichen der Nutzlosigkeit hingeworfen hatten: das neuerliche Sprengstoffattentat gegen einen Mafia-Ermittler — den zweithöchsten Strafverfolger der Insel, Paolo Borsellino, 52 — mit seiner Blutspur (sieben Tote, zwanzig Verletzte) hat für die Leibwächter vor allem eines deutlich gezeigt: Gegen eine längst nicht mehr auf den einstigen Namen „Ehrenwerte Gesellschaft“ erpichte kriminelle Superbande ist „mit den herkömmlichen Mitteln des Personenschutzes nichts mehr auszurichten“. Konsequenz, so ein Sprecher der Polit- und Manager-Schutzengel: „Der Staat muß aufhören, in altrömischer Manier — nach Art der Prätorianergarde — so zu tun, als könne er seine besonders exponierten Diener noch schützen.“
Wie sinnlos derlei schwerbewaffneter Schutz ist, zeigt ebendieser Anschlag: Als Bosellinos Kollege und Vorgänger Giovanni Falcone Ende Mai zusammen mit seiner Frau und drei Leibwächtern von einem Tausend-Kilo-Sprengsatz auf der Autobahn Flugplatz Punta Raisi-Palermo zerrissen wurde, monierten Polizeiexperten die Sorglosigkeit, mit der geschützte Personen ihre nächsten Fahrt- oder Flugziele angeben. Borsellino aber tat dies seit Jahren nicht — die Anschlagexperten erwischten ihn trotzdem, an der Haustür zum Appartement seiner Mutter, in den wenigen Augenblicken, da er das gepanzerte Auto verließ, um zur Pforte zu gehen. Die Leibwächter, die ihn abschirmten, starben mit ihm, ohne auch nur „einen Funken Chance zu haben, ihm das Überleben zu sichern“. Wer die an die Wand geklatschten Gewebeteile, die abgerissenen Gliedmaßen noch Stunden nach dem Attentat gesehen hat, glaubt dies.
Kurze Zeit später eskaliert die Situation weiter: Vom Ort des Attentats nahe dem Messegelände, wo die Bombe im Fiat Ibiza um 17 Uhr dutzendweise Autos umgekippt hat und man wie auf einem Kriegsfeld nur noch auf Trümmern und Splittern marschiert, sind wir mit Tausenden verzweifelter Menschen hinuntergewandert zur Präfektur nahe dem „Platz der Mafia-Opfer“. Dorthin kommt die Polit-Prominenz zum üblichen Krisen- und Trauerritual angereist — und da ist bereits eine wilde Keilerei im Gange.
Wutentbrannte Leibwächter
Polizisten in Uniform müssen die anreisenden Politiker, darunter den erst zwei Wochen amtierenden Innenminister Mancino, seinen Justiz- Kollegen Martelli und den ebenfalls neuen Verteidigungsminister Andò schützen — weniger vor der aufgebrachten Palermitaner-Menge, sondern vor wutentbrannten Eskorte- Polizisten. „Ich weiß“, murmelt Mancino immer wieder nur, „ich weiß“— und keiner bekommt so recht heraus, was der Mann denn zu wissen glaubt. „Jedenfalls nicht, wie wir uns fühlen“, sagt Camine D'Alessio, auch er ein Begleitbeamter, „und nicht weil wir Angst haben, sondern weil wir sehen, wie machtlos wir sind.“
Machtlosigkeit, Hilflosigkeit: es sind die Gefühle, die nicht nur die schwerbewaffneten Leibwächter in diesen Augenblicken des Grauens überkommen. Das Gefühl totaler Ohnmacht überfällt alle, die hier in der Nacht wachen, teilweise beten, knien, Blumen verstreuen und dann wieder unvermittelt in Haßschreie ausbrechen — Haß: gegen wen? So genau weiß das niemand: zeitweise sicher gegen die Attentäter, aber, Konsequenz der Machtlosigkeit, mehr noch gegen diejenigen, die man dafür verantwortlich macht, daß es soweit kommen konnte. Die Politiker, die man der Mauschelei mit mafiosen Bossen zeiht, die Richter, die Polizei, die Carabinieri, die man für abwechselnd feige und unfähig hält.
Natürlich ist auch schon wieder die Kopf-ab-Fraktion da: Der Chef der neofaschistischen Partei MSI Gianfranco Fini ruft bereits nach der Erklärung des militärischen Notstandes, was die Einführung von Standgerichten mit der Möglichkeit von Todesurteilen erbrächte. Borsellino stand dieser Ideologie übrigens selbst nicht allzu ferne, sein letztes Mittagessen verbrachte er mit der örtlichen Sektionsleitung des MSI, zu der er seit einiger Zeit enge Beziehungen hielt. Doch gerade er wußte, so jedenfalls in mehreren Gesprächen mit der taz, daß „man Leuten den Kopf erst abhacken kann, wenn man sie hat“. Genau das aber ist das Problem.
Die gefürchtetsten der Bosse, Bernardo Provenzano und Salvatore Riina, sind seit Jahren untergetaucht, die Fahndungsfotos mehr als zwei Jahrzehnte alt. Von den im sogenannten „Maxiprozeß“ gegen insgesamt über 700 Angeklagte verurteilten fast 400 Personen hatte man während der Verhandlung allenfalls zwei Drittel gegriffen, der Rest ist flüchtig. Von den zweieinhalb Dutzend Lebenslänglichen sitzt gerade die Hälfte ein, die anderen sind unauffindbar — zumindest angeblich.
Auch dieses Attentat wird als machtvolle Herausforderung gewertet. „Die Frage ist, von wem an wen“, wie die Frau eines in einem früheren Attentat verletzten Eskorte- Beamten dem angereisten großsprecherischen Justizminister entgegenrief, der den Anschlag als „trockenen Befehl an den Staat in Rom“ wertete, sich aus den Angelegenheiten der Mafia herauszuhalten.
Der Staat hatte sich in der Tat unter dem bis zur Regierungsneubildung amtierenden Innenminister Enzo Scotti — mittlerweile ins Außenamt übergewechselt — darangemacht, zumindest einige Abteilungen der Unterweltindustrie etwas entschlossener als vordem anzugehen, hatte die an schnelle Freilassung gewohnten Bosse reihenweise (mitunter mit Mitteln hart an der Grenze des Legalen) wieder ins Kittchen zurückbefördert, für den Aufbau einer Art FBI all'italiana gesorgt und sich mit den wichtigsten Mafia-Experten des Landes umgeben.
Spekulationen über die Hintermänner
Dennoch glauben die Leibwächter hier in der „Frontstadt Palermo“ nicht im Traum daran, daß „all das nur Mafia-Werk ist“, so ein Sprecher während der Auseinandersetzung mit ihren uniformierten Kollegen an der Präfektur — und diese sind sich in diesem Punkt einig: „Hier geht es nicht nur um die Oberhand auf der Insel, hier geht es um eine Destabilisierung unseres gesamten Staates“, so ein Hauptkommissar im Eskorteneinsatz ohne die geringste Scheu gegenüber seinem obersten Chef Vincenzo Parisi, der die Wertung „auf die zuständigen Organe, und das ist hier die Justiz“, zu verschieben versucht: „Falcone und Borsellino sind nicht die einzigen, die Ermittlungen führen, die Mafia interpretieren, Bosse umdrehen, Leute zur Verurteilung bringen, und gerade Borsellino hat gezeigt, daß auch das grauenhafte Attentat gegen seinen Vorgänger Falcone die Untersuchungen nicht stoppt.“ Die Frage ist, wer sonst hinter diesen immer spektakuläreren Attentaten stecken könnte.
Pino Arlacchi, Soziologieprofessor und bekanntester Mafiologe, seit einem Vierteljahr Berater im Innenministerium, vermutet, daß hier „nicht die Mafia als solche am Werk ist, sondern ein Teil von ihr, die sogenannte ,Cosa Nostra‘, eine Internationale des Verbrechens — die am stärksten mit nichtmafiosen Zirkeln zusammenarbeitet, von kriminellen Geheimlogen bis zu rechtsterroristischen Gruppen“.
Für die Eskorte-Beamten macht es freilich wenig Unterschied, wer da bombt — für sie ist der Punkt gekommen, so Carlo Belisia im Morgengrauen, als er langsam seine Sprache wiederfindet, „wo wir nur noch gemeinsam mit unseren Schutzbefohlenen sterben können“.
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