: Turbulenter Start des Gesundheitsgipfels
Welt-Aids-Kongreß in Amsterdam begann mit Tränen und starken Worten/ Düstere Zahlen zur Ausbreitung der Krankheit/ Kluft zwischen der Zunahme der Pandemie und den Gegenmaßnahmen wird immer größer/ Kritik an den USA ■ Von Manfred Kriener
Amsterdam (taz) — Der Auftakt war turbulent: Die 8. Welt-Aids- Konferenz in Amsterdam sorgte schon am ersten Tag für Tränen und starke Worte. Die Eröffnungsfeier dieses Meetings, an dem mehr als 11.000 Wissenschaftler aus 133 Ländern teilnehmen, zeigte ein völlig neues Gesicht und durchbrach die üblichen Grußwort-Arien durch lebendige, mutige Beiträge von Betroffenen, die „ganz vorn an der Aids-Front“ arbeiten, so der Konferenz-Vorsitzende Jonathan Mann. Statt des üblichen Alibi-Infizierten kamen eine ganze Reihe von Aids- Aktivisten, Infizierten und Kranken im offiziellen Eröffnungsprogramm zu Wort. Die Kritik an der Aids-Politik der USA nahm dabei Formen an, die manch graumeliertem Herrn auf den Ehrenplätzen den Atem nahm. Der amerikanische Präsident Bush und sein Gesundheitsminister Sullivan wurden wegen der noch immer bestehenden Einreisesperre für HIV- Infizierte von einem Redner — dem Aids-Aktivisten Thomas Sanchez — zweimal laut und vernehmlich als „Arschlöcher“ bezeichnet. Kommentar des stellvertretenden Konferenz-Vorsitzenden Joost Ruitenberg: „Ich danke für diesen eindrucksvollen Vortrag.“
Die Welt-Aids-Konferenz sollte eigentlich in Boston stattfinden. Wegen der diskriminierenden Einreisepolitik der USA, die allen Betroffenen eine Teilnahme unmöglich gemacht hätte, war sie nach Amsterdam verlegt worden. So prasselte denn die Kritik von allen Seiten auf die Bush-Administration nieder. Es sei für ihn unfaßbar, sagte der amerikanische Aids-Aktivist Richard Rochon, daß gerade sein Land, das weltweit die größte Zahl an Aids- Kranken hat, den Betroffenen die Türe weist. Er selbst sei trotz seiner Krankheit in jedem Land der Welt willkommen. Nur die USA verweigerten dieses Wilkommen. Der niederländische Entwicklungshilfeminister Jan Pronk bedauerte, daß die USA den Kampf gegen Aids mit dem Kampf gegen die Aids-Kranken verwechselten.
Großen Eindruck machte auch die Rede der Aids-Aktivistin Marina Alvarez aus der South Bronx von New York. Sie sprach, mit den Tränen ringend, über ihre mehr als zwanzigjährige Drogenkarriere, über ihre drei Kinder und ihre panische Angst, daß jüngste Kind angesteckt zu haben. Ihre Rede war alles andere als ein ausgefeilter launiger Wissenschaftlervortrag. Noch nie habe sie vor so vielen Menschen gesprochen — sie hätte es nicht extra betonen müssen.
Schon auf der Eröffnungspressekonferenz hatte Jonathan Mann eine „andere“ Aids-Konferenz versprochen, eine Art „Gesundheitsgipfel für diejenigen, die mit Aids arbeiten“. Erstmals stehen soziale und politische Themen gleichberechtigt neben den medizinischen und wissenschaftlichen Vorträgen. Durch abendliche Gespräche am runden Tisch und zusammenfassende Reports sollen die wissenschaftlichen Inhalte den Nicht-Spezialisten besser vermittelt werden. Zumindest auf der Eröffnungsfeier wurde der Anspruch einer neuen Aids-Konferenz eingelöst.
„Ich glaube an Gott, ich glaube an Wunder, und ich glaube, daß der Mensch imstande ist, sein Verhalten zu ändern und sich vor Aids zu schützen“, hatte Marina Alvarez ihre Rede geschlossen. Doch die neuen Zahlen über die Entwicklung der Aids-Pandemie geben zu solchem Optimismus wenig Anlaß. Die Nigerianerin Eka Esu-Williams, Präsidentin der afrikanischen „Gesellschaft für Frauen und Aids“, berichtete über die weltweite Entwicklung. Die Ausbreitung von Aids habe noch an Dynamik gewonnen, während die Gegenmaßnahmen der Völkergemeinschaft auf diese Herausforderung an Kraft verlören: „Unsere Antwort auf Aids ist schwächer geworden.“ In keinem Land der Erde sei die weitere Ausbreitung des Virus gestoppt worden.
In Afrika habe sich die Zahl der HIV-Infizierten in den letzten fünf Jahren verdreifacht auf heute 7,5 Millionen. In den USA werde die Zahl der Neuinfektionen allein für dieses Jahr auf 40.000 bis 80.000 geschätzt. 75.000 Europäer hätten sich im vergangenen Jahr mit dem Virus angesteckt. Mehr als eine Million Kinder seien bisher weltweit mit der HIV-Infektion geboren worden. Mit besonders großer Geschwindigkeit breite sich Aids auf dem asiatischen Kontinent aus. In Thailand, Burma und Indien wüte das Virus heftiger als in allen früheren Phasen der weltweiten Epidemie. In den nächsten drei Jahren werden nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mehr Menschen an Aids erkranken als in den letzten zehn Jahren, bis zum Jahr 2000 werden weltweit 30 bis 40 Millionen mit dem Aids-Virus infiziert sein.
„Warum sind wir noch immer so verwundbar für diese Pandemie?“ fragte Esu-Williams. Ihre Antwort: Aids könnte nur sinnvoll bekämpft werden, wenn die sozialen und gesellschaftlichen Probleme der Entwicklungsländer, in denen inzwischen acht von zehn Infizierten leben, gelöst werden. Zum Kampf gegen Aids gehöre auch die Alphabetisierung und der Kampf gegen die Armut. Wo das Geld fehle, um Kondome zu kaufen oder Geschlechtskrankheiten zu behandeln, wo nur wenige die Aufklärungsbotschaften lesen können, breite sich Aids mit rasender Geschwindigkeit aus. Noch immer werde ungetestetes Blut weitergegeben, weil die Mittel für die Kontrolle fehlen. Und während alle Welt auf therapeutische Erfolge warte, könnten sich die meisten Afrikaner nicht einmal die bisher verfügbaren Medikamente leisten. Vielleicht werde es schon bald einen Impfstoff und neue Arzneien geben, aber „werden wir sie uns auch leisten können“? Wenn die sozialen und gesellschaftlichen Faktoren nicht stärker einbezogen werden, gebe es keinen Erfolg in der Prävention von Aids.
Esu-Williams und auch der Konferenz-Vorsitzende Jonathan Mann verlangten beinahe gebetsmühlenhaft ein neues Verständnis für Aids. Die bisherige Aids-Bekämpfung sei gescheitert, weil sie zu sehr auf das Virus gestarrt und das soziale Umfeld aus den Augen verloren habe. Zu einer neuen Sichtweise von Aids gehöre vor allem die globale Perspektive. Die Industrienationen verfügten über 85 Prozent des weltweiten Einkommens für nur 20 Prozent der Bevölkerung. Wenn sie die ärmeren Länder nicht stärker unterstützten, werde das Virus den Kampf gewinnen.
Jonathan Mann sprach von einem historischen Zeitpunkt. Die Kluft zwischen den düsteren epidemiologischen Zahlen und unserer Antwort auf Aids sei unübersehbar geworden. In dieser Phase müsse weltweit ein neuer Anlauf im Kampf gegen Aids genommen werden. „Wir wissen sehr genau, wie wir die Epidemie stoppen könnten, wir haben alle Informationen, aber was wir bisher getan haben, war zu wenig.“
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