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CAFESATZ

■ Der leiht ihm das Damenrad, damit Hans auf "Ave-Maria machen" kann

Cafésatz“: in einem Café jemand Fremdes ansprechen und sie oder ihn ganz persönliche Dinge fragen. Die Einstiegsfrage: „Warum sitzen Sie hier?“

Wegen seiner postmodernen Backstein-Dekoration wird der Platz der „Rote“ genannt. Ein Mauerwinkel aus roten Klinkern hat einen Sims, der sich als Bank nutzen läßt. Er sitzt dort, eine Zeitung unterm Hintern, ein No-name-Pils in der Hand, die schütteren blonden Haare in fettiger Tolle nach hinten gekämmt. Ich stelle mein Rad ab und sage meinen Spruch: Ich schreibe an einer Geschichte, und dazu gehört, daß ich Leute anspreche, die ich nicht kenne, und Sachen frage, die mich nix angehen. „Student?“, fragt er und schaut mich prüfend aus leicht wässerigen Hans-Albers-Augen an. Das kann ich verneinen. Was ich sonst bin, interessiert ihn nicht mehr.

Er sitzt hier — „wir alle sitzen hier“ —, weil sie die „Schicksalmelodie“ gehört haben, arbeitslos und kein Zuhause. Wie das im Leben eben so sei: „Mal ist man ganz oben, mal ganz unten.“ Ob er denn schon mal ganz oben gewesen sei? Die Frage bekümmert ihn: Hochstapeln könnten alle. Erst nach einer Pause und einem langen Blick zu den Kollegen gegenüber (unter einer Pyramide auf Backsteinsäulen) geht's weiter. Er ist aus Dresden. Sein Sächseln hat sich abgeschliffen. Denn er hat schon '57 rübergemacht. Wegen „Familienangelegenheiten“, weil zu Hause gesoffen und gestritten wurde. Waren das seine Eltern? Sowas ähnliches. In Duisburg hat er auf Zeche gearbeitet. Weil er sonst nichts gelernt und „bestimmt nicht studiert“ hat. Ob ich nicht lieber ein Bier holen wolle? Ich bin bereit, den Eintritt zu zahlen. Als ich mit drei Flaschen vom „Kümmeltürken“ zurückkomme, lobt mich Hans: „Hab ich doch gleich gesagt: Der Junge kommt wieder.“

Und warum sitzen sie gerade hier auf dem „Roten Platz“? Weil die „Penne“ nebendran ist. Das Chistopherus-Heim. Die ziehen ihren Anteil gleich von seiner Sozialhilfe ab. Zu essen gibt's dort auch. Das Mittagessen hat er heute verpaßt. Erstmal was trinken. Das Butterbrot abends vorm Fernseher, das ist seine liebste Mahlzeit. Wie ihm die architektonische Gestaltung des Platzes gefällt? Früher mit dem Kiosk war's besser. Da gabs Bier und ein Vordach, unter dem man auch mal „Platte machen“, pennen konnte. Vor allem aber wurde beim Neubau ein Klo vergessen. Sie müssen jetzt immer hinter die Säulen zum Pinkeln gehen.

In der Christopherus-„Penne“ sind noch drei aus der „ehemalischen DDR“. Einer von denen ist sein Freund Herrmann. Der sitzt zwei Meter weiter auf dem Backsteinsims, eine Illustrierte unter sich, trinkt in disziplinierten Schlucken, schaut unter der Schlägermütze stur geradeaus und sagt plötzlich: Aus Magdeburg ist er. Auch seit '57 im Westen. Sein letzter Job war auf der Raststätte Münsterland. Automaten nachfüllen, Geschirr spülen. 800Mark netto sind übrig geblieben nach Abzug von Miete und Kostgeld. „Gastrolet“ heiße diese Tätigkeit, weiß der blonde Hans und lobt Freund Herrmann: Der sei in Ordnung. Oft säßen sie einfach so da, ohne zu reden.

Und Frauen? Hans zeigt auf eine Frau, die im Gespräch mit anderen Männern unter dem Pyramidendach steht. Von denen gibt's weniger als Männer, doch auch Frauen hören die „Schicksalsmelodie“. Die da gehört zu Karl. Aber es gibt „Senfgurken“ genug. Keine Angst vor Aids? Nee — wenn er damit anfinge, brauche er doch überhaupt keine mehr anzufassen.

Mit einer leichten Kopfbewegung macht der blonde Hans plötzlich Herrmann auf etwas hinter meinem Rücken aufmerksam. Ich drehe mich um. Zwei junge Männer in Jeans sehen sich mein unabgeschlossenes Fahrrad an. Fragen jetzt: „Wem gehört das?“ „Mir“, und ich stehe auf und schließe es ab. Polizisten wollen sie sein. Ich gebe mich nicht mit deren Blechmarke zufrieden, will auch ihre Fotos sehen. Vor allem von dem einen, der im gebräunten Hemdausschnitt den Ehering an einem goldenen Kettchen mit sich führt. Warum sie gerade hier gestohlene Räder vermuten? Hier wie überall, behaupten sie. Dann suchen sie die Rahmennummer, wischen an verschiedenen Stellen, drehen das Rad auf den Kopf, finden schließlich eine Nummer und notieren sie. Dann ist Herrmanns Damenrad mit Einkaufskorb dran. Vor vier Jahren hat er es für 40Mark gekauft. Aber unsicher ist er doch. Zum Durchfunken der Nummern dreht das Polizei-Pärchen uns dezent den Rücken zu.

Währenddessen hat Herrmann wiederholt auf seine Uhr geschaut. Der Getränkeladen in der Nebenstraße macht um eins Mittagspause. Herrmann sammelt das Leergut ein. Hans überlegt genau, wieviele Flaschen er will, rechnet die von mir geschenkte mit und kommt auf zwei neue. Wieviele am Tag sind denn gestattet? „Also, wir trinken ja keine scharfen Sachen“, weicht Herrmann aus. Er hatte vor fünf Jahren einen Herzinfarkt.

Hans rückt einen Zehnmarkschein raus und preist den abziehenden Herrmann wieder als seinen besten Freund. Der leihe ihm sogar das Damenrad. Damit Hans auf „Ave-Maria machen“ kann. Beim Pfarrer in Hiltrup oder Wolbeck. Zuerst einmal muß man sich ordentlich vorstellen: „Mein Name ist Meier — auch wenn man nicht so heißt.“ Dann muß man „Sprüche draufhaben“ und sich eine Adresse ausgeguckt haben, um die Standardfrage „Wohnen Sie denn in unserer Gemeinde?“ beantworten zu können. Weil sie studiert hätten, seien die Pfarrer nicht dumm und gäben oft nur Gutscheine für Supermärkte raus. Hans hat es auch schon mit anderen Städten versucht. Dortmund zum Beispiel. Schrecklich dreckig! Er ist gleich wieder nach Münster zurück. Trotz der vielen Studenten.

DERLEIHTIHMDASDAMENRAD,DAMITHANSAUF„AVE-MARIAMACHEN“KANN

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