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Gewehre und Messer

Über Stückeschreiben heute, „King Lear“ und den Zerfall eines Staates  ■ Von Dusan Jovanovic

Das Theater versucht im allgemeinen, auf ein menschliches Bedürfnis zu antworten. Es gibt den Zuschauern oft das, was sie im Alltag entbehren. Wenn sie gerade unterdrückt werden, kann das Theater ihnen einen Einblick in den Horizont der Freiheit anbieten oder zumindest eine Möglichkeit zur Illusion von Freiheit. In den totalitären Zeiten äußerte sich ein großer Teil des osteuropäischen Theaters als intellektuelle Abweichung und politische Ablenkung. Während die Armee das Schockmittel der Partei war, war das Schockmittel des intellektuellen Widerstandes das Theater.

Es sollte eine optimale Beziehung zwischen dem Leben und der Literatur geben, die die Existenz von beiden ermöglicht. Wenn die Verbindung zwischen ihnen ideal ist, wird sie selten in Frage gestellt. Aber das Problem entsteht, wenn diese Beziehung zerstört wird.

Es kann geschehen, daß der Unterschied zwischen der Literatur und dem Leben plötzlich abgeschafft wird. Was ist dann das Ergebnis? Das Ende des Lebens oder das Ende der Literatur?

Zur Zeit inszeniere ich gerade „König Lear“, und mir scheint es, als ob diese Tragödie aus der Literatur ausgebrochen sei (oder aus einer mythischen Vorzeit, in der sie nur eine schwarze Vorahnung und ein schlimmer Alptraum war, gut verschlossen für Jahrhunderte), um plötzlich in unsere historische Zeit entlassen zu werden und dort zu hausen und zu leben wie eine Art von Fluch.

Shakespeares „Lear“ ist ein Stück über den Zerfall der Familie (Geschwister-Ebene) und über den Zerfall eines Staates (Vasallen-Ebene). Die mythische Welt der Werte (moralische Ebene), in der die abstrakte Geschwistersolidarität und die Liebe stärker waren als egoistische Interessen, fiel in Stücke. Die Idee eines gemeinsamen Lebens hat sich als bloße Utopie herausgestellt, an die niemand mehr glaubt.

Der Vater der Familie und der Vater des Staates — König Lear — erfährt den Prozeß des Zerfalls seines Königreiches nicht nur als das Ende seiner eigenen Herrschaft und seiner absoluten Macht (er hört auf, König zu sein), sondern auch als Ende seiner Vaterschaft (er sagt sich von seinen Töchtern los, derentwegen er gezwungen war, den Staat aufzulösen), und schließlich, als er nicht mehr in der Lage ist zu verstehen, was mit ihm geschieht und warum, erfährt er auch das tragische Ende seines Verstandes (Lear wird verrückt).

Nun ist derjenige, der kein Vater und kein König mehr ist, tatsächlich ein heimatloses Geschöpf und ein Irrer, der mit blutendem Herzen herumrennt und sich zu verstecken sucht in einem Staat, der praktisch nur noch ein Ex-Staat ist und gar nicht mehr existiert. Genau genommen gibt es nichts mehr als das Blutvergießen und die Zerstörung des brudermörderischen Bürgerkriegs.

Parallel zu dem Prozeß der Zerstörung der materiellen Welt und zum Zerfall der geistigen Welt verläuft eine krebsartige Wucherung des menschlichen Denkens und Verstandes (Menschen löschen Menschen aus, sie richten katastrophische Verwüstungen in sich selbst und in ihren Mitgeschöpfen an). Die Produktion von Haß ist die einzige Produktion im Lande, die ein schwindelerregendes Wachstum erreicht, alles andere ist im rasenden Niedergang begriffen.

Was wir hier beobachten, sind Staub und Asche einer untergegangenen Welt, es ist die Erinnerung an etwas, das endgültig begraben ist und nun völlig der Vergangenheit angehört.

Es scheint tatsächlich so, als ob fast alles Vergangenheit sei und die Gegenwart nur ein gespenstisches Abbild der Vergangenheit und der beste Beweis dafür, daß die Zukunft nie kommen wird.

Was man mit dem bloßen Auge sehen kann, sind Phänomene der Verkehrtheit und Regellosigkeit: ein Para-Mensch, eine Para-Welt, eine Para-Geschichte. Sogar das Versprechen einer neuen Ära klingt wie eine mögliche Para-Zukunft.

Wir leben in einer Zeit, in der die Wirklichkeit durch eine Hyper- Wirklichkeit ersetzt wird und das Wirkliche durch die Zeichen des Wirklichen. Die Hyper-Wirklichkeit ist das Ergebnis der Wirklichkeitsproduktion auf der Grundlage fiktiver Modelle ohne historischen Ursprung oder Grundlage. Die Tatsachen haben keine Bedeutung mehr, keinen Zusammenhang oder Sinn. Niemand interessiert sich noch für Tatsachen. Schlimmer noch: Wir sind entsetzt über die Tatsachen.

In der Zeit der Repräsentation verbarg das Zeichen das Ding, nun verbirgt es, daß es nichts verbirgt. Wir leben in einem Zeitalter der Simulation. Früher einmal wurde sie als „Flucht aus der Wirklichkeit“ kritisiert. Aber: Das Simulierte verbirgt nicht die Wahrheit, das Simulierte ist die Wahrheit, die die Tatsache verbirgt, daß es keine Wahrheit gibt.

Der Verlust des Wirklichkeitsbezugs ist traumatisch. Wir werden von einer Nostalgie nach der Wirklichkeit ergriffen, wir suchen nach Herkunft und Grundlage, Wahrheit, Objektivität, Authentizität, Spontaneität, Nirvana — wir sind bereit, alles zu tun, um die Leere zu vermeiden. Wir suchen nach Hilfe in allen Richtungen: in der fernen Vergangenheit und in der fernen Zukunft. Einige rufen nach Mythos, Magie, Kommunikation mit dem Heiligen, andere rufen nach nationaler Gemeinschaft oder politischer Ausschließlichkeit. Natürlich sind alle diese Zielvorstellungen irrational, aber sie sind nützliche Vorgaben bei der Suche nach intensivierten kollektiven Werten, nach Mitgliedschaft, nach Zugehörigkeit zu jemandem oder etwas, nach wiedergewonnenem Sinn. Es gibt eine bezeichnende Häufung von Nostalgie und rückwärtsgerichteter Faszination. Es gibt künstlerische Bewegungen, die sich bewußt und programmatisch Retro-garde nennen. Sie sehnen sich nach Vollkommenheit und versuchen Formen der Gemeinschaft wiederherzustellen, die auf elitären, exklusiven oder terroristischen Prinzipien beruhen.

Natürlich sind die beschriebenen Prozesse der Simulation weder immer radikal, noch sind sie die einzigen in der sogenannten „Szene“. Wie wir in der modernen Welt der universellen Manipulation leben, so leben wir auch in der Zeit der Simulation. Aber andererseits leben wir gleichzeitig in unterschiedlichen Teilbereichen von Tradition und sind entsprechend gefangen in traditionellen Modellen des Denkens und des künstlerischen Ausdrucks.

Im Vorwort zu seinem brillanten Buch „Kritik der zynischen Vernunft“ sagt Peter Sloterdijk, daß die Philosophie angesichts ihres eigenen Endes bereit sei zuzugeben, „die großen Themen, das waren Ausflüchte und halbe Wahrheiten. Diese vergeblichen schönen Höhenflüge — Gott, Universum, Theorie, Praxis, Subjekt, Objekt, Körper, Geist, Sinn, Nichts — das alles ist es nicht.“ „Wir sind“, sagt er, „aufgeklärt, wir sind apathisch. Bei dem, was wir wissen, fragen wir uns, wie wir es fertigbringen, mit ihm zu leben, ohne zu versteinern.“

Das Stückeschreiben ist in einer ähnlichen Situation wie die Philosophie. Über die Zeit, in der wir leben, und über die Existenz des Menschen (condition humaine) wissen wir alles oder fast alles — und doch wissen wir, daß es kaum einen Sinn hat, es auszusprechen. Argumentation ist entweder Luxus oder Zynik. Es ist nicht wahr, daß wir in der einen Hand Gewehre und in der anderen Hand Rosen haben, so daß wir in beiden Händen zusammen Gewehre und Rosen haben. Nein. In einer Hand haben wir Gewehre, und in der anderen Hand haben wir Messer, so daß wir in beiden Händen zusammen Gewehre und Messer haben.

Dusan Jovanovic ist Dramatiker und Theaterregisseur. 1939 geboren, unterrichtete er bis 1989 Regie an der Akademie der Künste in Ljubljana (Slowenien). Er war Mitherausgeber der Theaterzeitschrift Euromaske , die ihr Erscheinen mit dem Ausbruch des Krieges in Jugoslawien einstellen mußte. Er lebt in Ljubljana.

Dusan Jovanovic hielt diesen Vortrag im Rahmen eines Symposiums des Internationalen Theaterinstituts ITJ während der Biennale in Bonn im Juni 1992.

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