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"Traditionen"

■ betr.: "Erde der Frauen", zum LeserInnenbrief der Freiburger "Terre des Femmes"-Gruppe, taz vom 15.7.92

betr.: „Erde der Frauen“,

zum LeserInnenbrief der Freiburger „Terre des femmes“-Gruppe,

taz vom 15.7.92

Meine Frage: Was wird eigentlich in Zukunft noch alles mit Begriffen wie Tradition und Identität gerechtfertigt?

Wenn die Betroffenen selber die Auseinandersetzung zum Thema Klitorisbeschneidung führen sollten, dann würde das für mich heißen, daß die betroffenen Mädchen darüber entscheiden sollten — ohne Druck, durch welche Moral auch immer. Sonst finde ich diesen Satz so zynisch, als würde jemand Folteropfer im Gefängnis dazu auffordern, sich mit der an ihnen ausgeübten Folterpraxis auseinanderzusetzen und sich frei zu entscheiden, ob sie weiter gefoltert werden wollten.

Ihr erwähnt in Eurem Brief noch den Frauenhandel — seid mal damit vorsichtig! Es gibt bestimmt auch Völker, zu deren Traditionen Frauenhandel gehört — die beleidigt Ihr vielleicht!

Ganz zu schweigen von traditionsbewußten deutschen männlichen Landsleuten, die angeblich sanfte Asiatinnen“ brauchen, weil die „emanzipierten Ziegen“ hier so traditionslos sind.

Es gibt in der Geschichte bis heute kaum irgendwelche Scheußlichkeiten, die sich nicht irgendwie mit Traditionen rechtfertigen ließen. Rechtlosigkeit von Menschen, besonders von Frauen und Kindern, Unterdrückung, Ungerechtigkeit — von der Inquisition bis zur Diskriminierung von Lesben und Schwulen —, alles geht auf Traditionen zurück, zumindest werden sich immer Leute finden, die damit argumentieren. Ihr werdet Euch in allen zukünftigen Fällen, in denen Ihr Euch für verfolgte Menschen einsetzen wollt, in die Defensive bringen, wenn Ihr alle Scheußlichkeiten die mit Traditionen und Identität gerechtfertigt werden, so relativiert. Wir haben ja hier in Deutschland auch so Traditionalisten, die „Verständnis für ihr Identitätsgefühl“ fordern! Gewisse „Traditionen“ wie Rassismus, Sexismus, Ungerechtigkeiten, Folter, Verstümmelungen und ähnliche Verletzungen der Menschenrechte gehören international geächtet. Egal wer das macht!

Auch die Menschenrechte sind postuliert worden im Widerstand gegen „Traditionen“ in Europa! Und hätten die, die gegen die Diskriminierung der Farbigen in Südafrika protestierten, das lieber lassen sollen, um nicht als Feinde Südafrikas zu gelten? Weil ja im eigenen Land auch nicht alles ideal war und ist? Und was die Isolation alter Menschen angeht — was passiert eigentlich in den genannten Ländern mit Frauen und ihren Töchtern, die sich weigern, die „Tradition“ der Klitorisbeschneidung mitzumachen? Isolation von Familienmitgliedern — besonders Frauen — gibt es dort ja angeblich nicht... Elvira Büchner, Berlin

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