: Daß wir über die Ufer treten
■ Kleiner Führer durch das größte „Musikfest Bremen 1992“, das wir jemals hatten: Start Ende August
Ganze Flugzeuge voll der erlesensten Ensembles werden demnächst wieder über dem Standort Bremen niedergehen: Das Musikfest '92 bietet vom 29. August bis zum 23. September in 24 Konzerten hintereinander echte golden hours des internationalen Musiklebens; die Veranstalter schwelgten gestern vor einberufener Presse und hatten auch endlich das nötige Geld eingefahren in ihre Scheuern. Von dem zuständigen Kulturressort ganz abgesehen zahlt diesmal auch der Wirtschaftssenator, zudem haben sich wieder Sponsoren eingefunden, 13 an der Zahl, und man wird also wieder nicht wissen wohin vor lauter Aufenthaltsqualität.
die vielen
männer
Biedermeier Nonett
Die Telekom präsentiert das Hilliard-Ensemble, Toshiba präsentiert das Biedermeier-Nonett, Lufthansa präsentiert die London Classical Players, selbst der Kurier am Sonntag präsentiert das Barockorchester Bremen; bloß die taz präsentiert wieder nur die Rechnung: knapp eineinhalb Millionen Mark wird das Spektakel kosten (860.000 fürs Programm, 600.000 für Organisation und Werbung); davon zahlen die Sponsoren 500.000, an Einnahmen werden 400.000 erwartet, und 600.000 Mark teilen sich Kultur und Wirtschaft.
Dafür kommen aber auch die größten Elefanten, allen voran die Academy of St. Martin-in-the
der ältere
herr
Kurt Masur
Fields unter Neville Marriner, bekannt aus Funk, TV und 1001 Plattenaufnahme; zwischen all ihren Touren findet die Academy noch Zeit, das Musikfest mit einem großen Open-Air-Konzert auf dem Domshof (29.8.) zu eröffnen.
Auch der Heldenstädter Kurt Masur stellt sich ein mit seinem Gewandhausorchester Leipzig (9.9.). Und in einem späten Son
Die Deutsche Kammerphilharmonie, Bremens jüngste Attraktion
derkonzert (27.11.) läßt John Eliot Gardiner mit dem schon im letzten Jahr umjubelten Orchestre Revolutionnaire et Romantique Verdis Requiem erklingen.
Gardiner, als Vertreter eines aufgeklärten Authentizismus, gehört eigentlich schon zum zweiten der drei Stränge, aus denen der Zopf des Musikfestes geflochten ward: zu der historischen Aufführungspraxis, deren gerechte Sache der Organisator des Festes, Thomas Albert von der Akademie für Alte Musik, in Bremen seit Jahr und Tag verficht. Da kommt also etwa das Biedermeier-Nonett aus Amsterdam mit frisch abgebeizten Werken von Rossini und Brahms (4.9.); da spielt die Hausmusik London unter Monica Huggett kühnerweise selbst romantische Kammermusik für Streicher mal auf Originalinstrumenten (10.9.); aber auch Rekonstrukteure des historischen Gesangs sind vertreten: die Tallis Scholars, ebenfalls aus London. Sie singen u.a. Tallis– 40-stimmiges (!) Werk Spem in alium (29.9.), und ganz a la Renaissance.
Dritter Strang: zeitgenössische Musik, gleich angefangen mit unsrer gerade erst adoptierten
die beiden Personen
Meredith Monk und Robert Een
Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, die am 31.8. mit Gidon Kremer ihr Antrittskonzert in der Glocke gibt. Wir hören Werke von Phil Glass, Aaron Copland und Charles Ives. Zwei Wochen später kommt gar Meredith Monk (13.9.) aus ihrem New Yorker „upper underground“ (Albert) hervor und stellt zusammen mit Robert Een ihre Kammeroper Facing North vor. Tags darauf (14.9.) folgt das womöglich witzigste Ensemble: Das Turtle Island String Quartet weist alles von sich, was ein ordnungsgemäßes Streichquartett ausmacht. Es hat sich der freien Improvisation verschworen und wildert vergnügt im Crossover-Country zwischen Klassik und Jazz.
vier männer
geigen schwingend
Turtle Island String Quartet
Die Junge Deutsche Philharmonie schließlich, die Ursuppe, aus der unsre Kammerphilharmonie dereinst geschöpft ward, kommt mit Kompositionen von Frank Zappa (!), Schnittke und Strawinsky (18.9.)
Zudem werden erstmals ausgewählte historische Stätten des Umlandes (in Bederkesa, Verden, Achim usw.) mit acht Konzerten gebenedeit, was den rauhen Staatsrat Hoffmann zu der Verkündigung rührte, „daß wir jetzt über die Ufer treten“. Es wird schon niemand ertrinken, höchstens im nächsten Jahr, wenn das Musikfest noch größer, schöner, wahrer geworden ist: Dann mit eingebautem „Internationalem Bach-Festival“ und einer Extra-Abteilung für die Oper. Manfred Dworschak
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