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Vaterländische Idylle an Bord der „Alten Liebe“

■ Teil 4 der taz-Sommerserie entlang der deutschen Küste: Tourismus-Simulation in Cuxhaven

„Und das ausgerechnet heute“, sagt die vollschlanke Endfünfzigerin im geblümten Sommerkleid, während sie bei sengender Hitze Stufe für Stufe erklimmt. Auf dem Rücken ihres Kleides haben die vorhergehenden Strapazen im brutkastengleichen Auto schon ihre Spuren in Form eines großen Schweißvierecks hinterlassen. Oben wartet die Bank und in der Handtasche ein großes Taschentuch für den Schweiß sowie eine Flasche Sonnenmilch, Größe extra large. Der Jahrhundertsommer 92 schlägt seine Kapriolen: Schon am frühen Vormittag zeigt das Thermometer fast 30 Grad im Schatten, doch hier in der prallen Sonne können es gut und gerne auch 50 sein. Die Herren der Ausflugspartie haben sich eigens vorhin Sonnenhüte zugelgt, nicht schön, aber billig: „Für sechs Mark kann das Ding ruhig wegfliegen.“ Aber so richtig wehen will er nicht heute — der Wind in Cuxhaven.

Tourismus sei die weltweit am meisten verbreitete Form der Simulation, sagen die Kitschforscher. Zwar sind die Schweißperlen auf der Stirn der Dame oben auf der Bank mehr als echt, aber trotzdem haben die Forscher recht: eine Simulation deshalb, weil nichts so ist, wie es scheint und nichts so scheint, wie es ist.Beispiel Cuxhaven: Die Simultansimulation einer Kreisstadt, einer Hafenstadt und eines Kurortes. Das soll den Cuxhavenern erst mal einer nachmachen. Das Hafenbecken in der Stadt hält vom einen Teil die Hafengerüche ab, die am anderen Ende jedem Bewohner eine Schmerzensgeldzahlung wegen Körperverletzung zustehen lassen sollten. In der Deichstraße hinter selbigem findet sich die Simulation des geeinten Europas: Nationalitätenrestaurants aller relevanten Gastarbeitergruppen reihen sich hier wie Perlen auf eine Schnur: „Don Quijote“, „Pizzeria da Carlo“, „Sivas“ und „Adria“, das noch jugoslawische Spezialitäten in der Leuchtreklame anführt — doch die sind hier nicht mehr gefragt: drinnen herrscht gähnende Leere, obgleich einheimische Gastronomen die Spezialitäten der serbischen Küche nach wie vor ungebrochen erfolgreich vermarkten: „Solange keine Kroaten kommen...“

Der ehemalige Fähranleger „Alte Liebe“, den die Dame mit den Schweißausbrüchen erklommen hat, ist schließlich die Simulation schlechthin: eine zweigeschossige Holzkonstruktion in der Elbemündung, die hier die meeresverdächtige Breite von achtzehn Kilometern erreicht. Neben der Loreley, der Wartburg und dem deutschen Eck in Koblenz stellt die „Alte Liebe“ in Cuxhaven ein Highlight der deutschen Ausflugskultur dar. Man sitzt wie zu Hause auf halbwegs festem Boden und kann dennoch mit den Schiffen in die Ferne schweifen. Lautsprecherdurchsagen erklären alles über ein- oder auslaufende Schiffe — bloß kommt gerade keines vorbei. Nichtsdestotrotz will die Idylle genossen werden: wer raucht, steckt sich erst mal eine Zigarette an, wer ißt, packt sein mitgebrachtes Stullenpaket aus: so viel vaterländische Idylle schreit nach einer Übersprungshandlung.

Wie der Blitz den Boden sucht. Bedrohlich grollt das Gewitter in der Ferne. Dann scheint die Luft zu stehen, plötzlich sinkt der Luftdruck in Sekunden, wie ein geplatzter Reifen steigt die Luftfeuchtigkeit auf 100 Prozent. Es ist wie Fliegen, nur Fliegen ist schöner. Am Strand beginnt die Massenflucht, und sie alle werden den Sonnenuntergang verpassen, der — wie die Kitschforscher sagen — das scheußlichst mißbrauchte Phänomen der Natur darstellt: doch hier ist er alles andere als kitschig. Nicht rot, sondern graublau, dafür plastisch, fast dreidimensional. Unten die grüne Marsch, dann die grauen Wolken, darüber die Sonne: so etwas sieht man nicht auf Postkarten, sondern höchstens auf den Bildern von Emil Nolde. Lutz Ehrlich

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