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„Das ist eine Mafia“

Frankreichs Bluter sterben an Aids — doch der Staat weist die Verantwortung von sich. Seit mehrern Wochen wird in Paris prozessiert. Heute soll Ex-Premierminister Laurent Fabius aussagen  ■ AUS PARIS BETTINA KAPS

Stéphane und Ludovic schauen aneinander vorbei. Seit fünf Wochen kreuzen sich die beiden Jungen fast täglich im Pariser Justizpalast. Sie kennen sich auch durchs Fernsehen, wissen also voneinander, daß sie beide gegen Aids kämpfen und daß die Krankheit, sieben Jahre nach der Infektion, bei beiden weit fortgeschrittenen ist. Wie alle Opfer hier hoffen sie, daß wenigstens die vier Männer vorne im Gerichtssaal schuldig gesprochen werden und die lächerlich geringe Höchststrafe von vier oder fünf Jahren kriegen.

Doch die Ängste, die Wut und die Hoffnungsschimmer ihres nur noch kurzen Lebens führen sie nicht zusammen. Ludovic hält sich in den Verhandlungspausen an der Seite seiner Mutter. Der 16jährige in den riesigen Turnschuhen scheint sich unter dem Schild seiner blauen Baseballmütze zu verstecken. Ganz anders Stéphane. Er ist klein und quirlig, rennt erst zum Getränkeautomaten, dann redet und lacht er mit seinen Eltern und der Anwältin. Im holzgetäfelten Gerichtssaal kämpft der 14jährige mit Hitze und Müdigkeit, da fallen ihm oft die Augen zu. Doch in den Pausen wirkt er geradezu unbeschwert. Um so mehr irritieren die Zeichen der Krankheit an Armen, Beinen und den noch runden Backen.

„Unter Blutern herrscht keine Solidarität“, sagt Stéphanes Vater, Patrice Gaudin. Sogar die „Vereinigung der Hämophilen“ habe ihnen stets eingebleut, die Bluter-Krankheit am besten zu verheimlichen, um Probleme in der Schule oder bei der Arbeit zu vermeiden, „so als ob wir uns schämen müßten. Selbst die paar Familien, die geklagt haben und sich hier täglich begegnen, halten nicht zusammen. Jeder schottet sich ab.“

Mit elf Jahren tot

Aids empfinden viele Bluter um so mehr als Stigma, als sie nicht mit den anderen Risikogruppen, mit Homosexuellen, Drogensüchtigen und Prostituierten in einen Topf geworfen werden wollen. 1.250 Blutern ist in Frankreich bis Ende 1985 der tödliche HIV-Virus injiziert worden, 256 sind bereits an Aids gestorben. Doch nur 27 Familien haben Klage erhoben, und fast alle bleiben anonym.

Die Gaudins sind eine von drei oder vier Familien, die das Schweigen über diesen Skandal gebrochen haben: Der Vater überließ dem Fernsehen die Videofilme, die er von seinen Kindern gedreht hatte, und die — zuerst unbeabsichtigt — den Ausbruch und dann das Fortschreiten der Immunschwächekrankheit bei seinem Sohn Laurent dokumentieren.

Laurent ist tot, er starb am 31.Januar, er war gerade elf Jahre alt. Stéphane hat also schon bei seinem Bruder die Qualen miterlebt, die ihm selbst noch bevorstehen. Stéphane wurde im Februar 1985 infiziert, sagt sein Vater, Laurent erst im Juli. Woher er das so exakt weiß? „Das ist auch so eine Geschichte“, sagt Patrice Gaudin und lacht bitter.

Die Jungen zeigten leichte Abwehrreaktionen, wenn ihnen der gerinnungshemmende FaktorVIII gespritzt wurde. Deshalb nahm die Ärztin regelmäßig Blutproben. „Sie hat uns jedoch nicht informiert, daß sie das Blut gleichzeitig auf Aids untersuchte. Sie wußte also, daß es da eine Gefahr gibt. Im Februar 1985 teilte sie uns mit, daß Stéphane HIV- positiv sei. Ich wollte daraufhin eine andere Behandlung für Laurent. Sie beteuerte jedoch, Stéphanes Ansteckung sei ein großer Zufall, und beschwor uns, die Prophylaxe weiterzuführen. Wir vertrauten ihr. Fünf Monate später vergiftete sie auch Laurent.“

Vor Gericht stehen nur vier Ärzte- Funktionäre, die Hämatologin aus dem Fachzentrum in Chambéry, die Stéphane und Laurent behandelt hat, ist nicht dabei. Die Staatsanwaltschaft hat es nicht für nötig befunden, sie anzuklagen.

Patrice Gaudin hat unbezahlten Urlaub genommen, um den Prozeß zu verfolgen. „Ich will alles wissen“, sagt der Elektriker. „Ich will die Wahrheit erfahren. Doch hier kommt nur ein ganz kleiner Teil der Wahrheit ans Licht, denn die behandelnden Ärzte und viele andere werden verschont. Außerdem ist der ganze Prozeß so angelegt, daß die Verantwortung der Politiker nicht zur Sprache kommt.“

Seit dem 22.Juni drängen sich die Opfer und ihre Familien Tag für Tag auf die paar Bänke in dem zu klein bemessenen Gerichtssaal der 17. Strafkammer. Schweigend verfolgen sie das Frage- und Antwortspiel. Nur ganz selten, wenn Angeklagte oder Zeugen Ungeheuerliches von sich geben, entfährt der Gruppe eine Art Stöhnen.

Wie die meisten Nebenkläger hält auch Joelle Bouchet, Ludovics Mutter, konzentriert Block und Stift in der Hand, um alles zu notieren, was ihr wichtig erscheint. Sie ist die einzige hier, die mit einem kleinen Button Protest signalisiert: „Silence = Death“ steht darauf. Im Freien dann, auf der Straße, schreit Joelle das Unrecht heraus, das ihr und ihrem Sohn angetan wurde.

Zusammen mit Ludovic hat sie sich „Act-up“ angeschlossen, einer Gruppe, die in Frankreich zuvor nur aus Schwulen bestand, und die so spektakulär wie möglich gegen Aids kämpft. „Bei Act-up habe ich erstmals echte Solidarität erfahren“, sagt Joelle Bouchet, die fassungslos zugesehen hat, wie die Mutter eines verstorbenen Bluters im Gerichtssaal einen der angeklagten Ärzte höflich begrüßte. „Für diese Leute sind Ärzte immer noch Heilige. Und die vier Angeklagten sind so arrogant wie vorher. Die haben gar nicht kapiert, was sie verbrochen haben.“

Joelle war es auch, die die Idee mit der roten Farbe hatte: Im März griffen Anhänger von Act-up den Ex- Wissenschaftsdirektor des Nationalen Zentrums für Bluttransfusion (CNTS), Bahman Habibi, an. Bei einem Kolloquium zur „Sicherheit der Bluttransfusion“ besprühten sie ihn mit roter Flüssigkeit. Der Grund: Habibi hatte noch am 3.Juli 1985 in einem Rundschreiben angeordnet, daß „die Ausgabe von nicht-erhitzten (Plasma-)Produkten die Regel bleibt“. Auch er ist nicht angeklagt. „Leute wie der sind schuld, daß Ludovic absolut keine Chance hatte“, sagt Joelle. Seit der Aktion ist ihr Verhältnis zu den Hämatologen, die Ludovic im Pariser Krankenhaus Necker behandeln, restlos gestört: „Die wollen uns jetzt noch mehr strafen: Sie geben uns nur noch zwei Perfusionen, das äußerste Minimum. Die Ärzte unterstützen Habibi gegen die Kranken. Das ist eine Mafia.“

Jeden Mittag demonstriert Act-up vor dem Justizpalast. Joelle, Ludovic und die Schwulen heben die Porträts der Politiker hoch, die ihrer Ansicht nach auch auf der Anklagebank sitzen müßten: „Dufoix schuldig, Hervé schuldig, Fabius schuldig“, steht auf den Plakaten, und eine rote Hand stempelt die Gesichter der früheren Sozialministerin Georgina Dufoix, des Staatssekretärs für Gesundheit, Edmond Hervé, und des Ex-Premierministers Fabius. Auf ihnen lastet der Verdacht, daß sie die Kommerzialisierung des US-amerikanischen Aids-Tests verzögert haben, bis der französische Test auf dem Markt war — des Geldes wegen.

Alle drei sind am heutigen Freitag als Zeugen geladen. Joelle Bouchet erwartet nichts von ihren Aussagen: „Der Richter wird ihnen ein paar unverfängliche Fragen stellen, und dann werden sie unbelastet nach Hause gehen. Denen kann doch nichts passieren.“

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