: Goethe, Heine und ... Rosenlöcher
Die Harzreise, durch die Mühen der Berge, beschrieben von Thomas Rosenlöcher ■ Von Irene Schülert
Wenn es im Inneren gärt, etwas zur Entscheidung drängt, wenn die erhoffte Inspiration am Schreibtisch ausbleibt, der große Wurf nicht gelingen will — treibt es deutsche Dichter und Denker nicht selten hinaus in die Berge und Wälder. Beliebtes Ziel: der Harz und der Wunsch, seinen höchsten Berg, den Brocken, zu erklimmen; als Metapher dafür, daß die gesteckten geistigen, beruflichen oder persönlichen Ambitionen ebenso hoch hinaus gelangen und einen Überblick über die eigenen Irrungen und Wirrungen ermöglichen mögen.
Goethe bereist den Harz im Winter 1777. Er ist seit 1776 Minister im Dienst des jungen Herzogs Carl August von Weimar, der ihn unter anderem in die Bergwerkskommission abstellt, mit dem Ziel, alte, brachliegende Gruben wieder zu aktivieren. Goethe steigt in die Gruben ein, spricht mit Bergleuten, um durch sinnliche Anschauung ein genaues Bild vom Bergbau zu erhalten. — Jedoch liegt diesem „Projekt heimliche Reise“ nicht nur dieser konkrete Anlaß zugrunde, vielmehr hat dieses eine weitere, sehr persönliche Bedeutung. Goethe stellt mit der Harzreise auch seine Entscheidung für das Ministeramt in Weimar auf die Probe. Der Ausgang der Reise, vor allem die Besteigung des Brockens soll ihm als Indiz gelten, ob er auf sich nehmen kann, wozu er sich, als erst 28jähriger, entschieden hat. Und weil der Entschluß für das Ministeramt und zugleich gegen den bislang goutierten lebensfreudigen Entwurf individuell von großer Tragweite ist, gerät ihm vielleicht der Brocken zum „Altar“, der „geheimnisvoll über der erstaunten Welt“ thront.
Auch Heine wandert im Herbst 1824 durch den Harz — es entsteht die „Harzreise“. Seit Anfang des Jahres hält er sich zum zweitenmal in Göttingen auf, um sein Jura-Studium abzuschließen. 1820 hatte er schon einmal in dieser Stadt studiert, war dann aber von der Universität geflogen, weil er im Zuge eines Streites einen Studenten zum Duell gefordert hatte, was zu guter Letzt auch das königliche Universitäts-Kuratorium beschäftigte und für Heine die Suspendierung für ein halbes Jahr bedeutete. (Das Duell fand übrigens nicht statt.)
Infolge dessen behielt Heine Göttingen in denkbar schlechter Erinnerung — nicht allein wegen dieser Posse; deren Eskalation und Ausgang waren nur Ausdruck einer spießigen Geisteshaltung, die Heine besonders zu schaffen machte. So sehr, daß er noch Jahre danach schreibt: „Die Stadt selbst ist schön und gefällt einem am besten, wenn man sie mit dem Rücken ansieht. Sie muß schon sehr lange stehn; denn ich erinnere mich, als ich vor fünf Jahren dort immatrikuliert und bald darauf konsiliiert wurde, hatte sie schon dasselbe graue, altkluge Ansehen. (...) Im allgemeinen werden die Bewohner Göttingens eingeteilt in Studenten, Professoren, Philister und Vieh. (...) Die Zahl der Göttinger Philister muß sehr groß sein, wie Sand, oder besser gesagt, wie Kot am Meer.“ Dementsprechend klingt das „Auf die Berge will ich steigen“, gleich zu Beginn der „Harzreise“ wie ein Aufschrei. Heine kehrt der Philisterwelt den Rücken, sie ist ihm zu eng geworden. Es zieht ihn in die Berge, um wieder frei atmen zu können, um den „Flügelschlag der Begeisterung“ wieder zu spüren.
Nun haben Goethe und Heine zwar einen unterschiedlichen gesellschaftlichen Status — Goethe übernimmt ein hohes Staatsamt, etwas Vergleichbares wäre für den Juden Heine angesichts der Judendiskriminierung nicht denkbar gewesen —; jedoch befinden sich beide in individuellen Umbruchsituationen. Die Entscheidung für das politische Amt will wohl überlegt sein, da Goethes bisheriges Leben eher politikfern verlaufen war. — Heine absolviert sein Jura-Studium, was für sein weiteres Leben keine Bedeutung haben wird. Er ist auf der Suche nach geistiger Nahrung, nach einem Ort, der Auseinandersetzungen bietet. Er geht nach Berlin, der Stadt, die gerade für jüdische „Kulturträger“ zum geistigen Mittelpunkt geworden ist — in die Salons der Rahel Levin (Varnhagen) und der Elise von Hohenhausen. — Goethe und Heine leben in dem Gefühl, es könne etwas Neues, etwas Großes entstehen. Die politischen Rahmenbedingungen sind hingegen vergleichsweise stabil.
Goethe, Heine... und was treibt Rosenlöcher 1990 in den Harz und auf den Brocken, und welche Parallelen und Unterschiede gibt es zu Goethe und Heine? — Er selbst schreibt: „Seit Wochen hatte ich davon gesprochen, einmal für ein paar Tage in den Harz wandern zu gehn, um wenigstens andeutungsweise wieder Gedichte schreiben zu können. Natürlich mußte es der Harz sein, nun, da Deutschland wieder eines werden sollte, und sicherlich hatte mir jenes ,Auf die Berge will ich steigen‘ vom Bücherschrank herüber sacht in den Ohren geklungen.“ Die Berge, Wälder und Wiesen, die Natur als Symbol für die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, Unverstelltheit, Lebendigkeit und Poesie. Der Versuch des Subjekts, mit sich identisch zu werden, nach innen zu horchen und auf Inspiration zu hoffen.
Im Vergleich zur persönlichen Umbruchsituation Goethes und Heines vollzieht sich zur Zeit der Entstehung des Rosenlöcher-Textes in der kaum noch existierenden DDR ein gesellschaftlicher Umbruch. „Es war der 1.Juli des Jahres 1990. Die Deutsche Mark war eingeführt worden und stand, von den Bewohnern Dresdens mit Freudenfeuerwerk empfangen, tatsächlich in Form eines riesigen Mondes über den Häuserblocks.“ Zwar wird die gesellschaftliche Veränderung begrüßt, jedoch wird auch Rosenlöcher von ihr überrascht, vielleicht gar überrollt. Jedenfalls wird das, was sich in Ostdeutschland Bahn bricht, mit großer Skepsis beobachtet. Und die Hoffnungen, die ehemalige DDR könne einen eigenständigen Weg gehen, sind bald begraben. „Denn die Mühen der Ebenen lagen hinter uns und vor uns die Mühen der Berge. Und die Politiker des Frühjahrs waren von der Sonne schon ganz ausgeblichen. Und starr und böse ihre Augen, wie von Gewittern verblitzt. So daß sie uns von der Plakatwand nachschauten, als ob sie gestorben wären.“
Nur auf den ersten Blick scheint die Lage der literarischen Vorgänger mit der Rosenlöchers vergleichbar. Zwar müssen auch Goethe und Heine Entscheidungen fällen, deren Tragfähigkeit sich erst noch erweisen soll, jedoch können sie, in einem relativ stabilen politischen Umfeld, immerhin noch Entscheidungen treffen, deren Auswirkungen sich überblicken lassen. Rosenlöcher hat es da schwerer. Das ihn umgebende politische System bricht zusammen, an seine Stelle tritt der pure Kapitalismus, was sich nicht zuletzt der Ich- Erzähler auch anders gewünscht hätte, und was folglich keinen Grund zur Euphorie darstellt. Alles um ihn herum und auch in ihm gerät ins Wanken. Es gibt keine selbstverständlichen „Haltegriffe“ links und rechts mehr, keine Orientierung. Das Individuum ist gezwungen, sich neu zu definieren. — Daher wird die Harzreise des Reisenden Rosenlöcher auch nicht so begeistert angetreten wie von seinen literarischen Vorgängern.
Welche Erfahrungen macht der Reisende? — Unterwegs in der DDR erlebt er seine Umwelt als bewegungslos und gelähmt, in der Zeit keine Rolle mehr zu spielen scheint, so als wolle das Land „erlöst“ und zu neuem Leben erweckt werden. „Der Zug (fuhr) immer langsamer. Und die Zeit verlangsamte (sich), so daß wir immer mehr Zeit hatten, je später die Züge ankamen. Während das Land sich selbst zu vergrößern schien mit seinen versteinerten Äckern, ... mit immer graueren Häusern und einsamer umwölkten Industrieminaretten.“ Und die Orte „hinter Halle hießen Belleben, Haldensleben, Alsleben, Aschersleben, als müßte erst eigens betont werden, daß hier noch Menschen lebten“. Wenn der Reisende hier Leuten begegnet, bleibt nicht selten ein schaler Eindruck zurück, wegen mangelnder menschlicher Züge. Dem Heimleiter in Treseburg sieht er die Mühen an, mit denen dieser versucht, „sein graues Waffenkammergesicht in menschlichere Falten zu legen, (um) ,Bitte schön‘ zu sagen“. — Während der Reisende seine vertraute Umwelt als erstarrt, fast erstorben wahrnimmt, erscheinen ihm seine Westbegegnungen zwar entgegengesetzt, aber nicht minder zweifelhaft. Westbürger sind für ihn erfahrbar als Personen, die ständig in Bewegung sind, ruhelos, keines Gedankens mehr fähig, außer des einen, wie sie im Osten eine schnelle Mark machen können: „Da, übers Vorzeitpflaster, kam schaukelnd ein Chromschiff heran. Beständig umherzufahren, das war ihre Art zu erfahren. ... Schon konnte ich den Insassen erkennen, der seinen Erwerbsblick rechts, links an die Fassaden anlegte.“ — Und die Geldgier paart sich mit westdeutscher Medienarroganz, die sich in völlig unbekannter Umgebung der „neuen Länder“ gebärdet, als sei der Alleinvertretungsanspruch auf Wahrheit durch die Bundesrepublik nun endlich eingelöst.
Derart konkrete Alltagserfahrungen mischt Rosenlöcher mit Reflexionen, verarbeitet die Erfahrungen in Träumen, was dem Leser ermöglicht, an Erfahrungs- und Denkprozessen teilzunehmen. Zugleich bezieht sich Rosenlöcher in seinem Text auf seine literarischen Vorgänger, und während er sich von Goethe, dem „Großapotheker“, abgrenzt, wendet er sich Heine positiv zu. Allerdings scheut er den direkten Vergleich mit den „Großen“, geht mit ihnen eher spielerisch und augenzwinkernd um. So wird der Zusammenbruch der DDR ironisch mit der Französischen Revolution „verglichen“. Rosenlöcher: „Von hier und heute ging einer der größten Bankrotte der Weltgeschichte aus, und unsereins mußte sagen, er wäre dabeigewesen.“ Goethe hatte 1792 in seiner „Campagne in Frankreich“ noch geschrieben: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabeigewesen.“
Auch die Besteigung des Brockens wird von Goethe, Heine und Rosenlöcher unterschiedlich verarbeitet. So erblickt Heine im Brocken eine Stein gewordene, deutsche Physiognomie: der Berg hat für ihn etwas „Deutsch-ruhiges, Verständiges, Tolerantes; eben weil er die Dinge so weit und klar überschauen kann. Und wenn der Berg seine Riesenaugen öffnet, mag er wohl etwas mehr sehen, als wir Zwerge, die wir mit unsern blöden Äuglein auf ihm herum klettern. (...) Durch seinen Kahlkopf, den er zuweilen mit einer weißen Nebelkappe bedeckt, gibt er sich zwar einen Anstrich von Philiströsität; aber, wie bei manchen andern großen Deutschen, geschieht es aus purer Ironie. Es ist sogar notorisch, daß der Brocken seine burschikosen, phantastischen Zeiten hat, zum Beispiel die erste Mainacht. Dann wirft er seine Nebelkappe jubelnd in die Lüfte, und wird, eben so gut wie wir übrigen, recht echt-deutsch romantisch verrückt.“
Und das Ich-Erzähler bei Rosenlöcher, wie empfindet es den Anblick des Brockens? „Auserwähltheit und Kraft (...) sogar etwas Majestätisches mit seinem Talent zur Wolkenversammlung. Darum hatte sich Goethe im Winter des Jahres 1777 im Brocken selber erkannt. Und ihn persönlich bestiegen, so daß er, ihn besteigend, sich selber überstieg.“ Rosenlöcher „begegnet“ auf dem Brocken jedoch nicht nur Goethe, sondern auch seiner eigenen Vergangenheit. Er trifft dort eine Dresdner Bekannte, mit deren Nichte er sich einst „als Kind hinter dem Schuppen geküßt“. — Noch ist die Vergangenheit zu gegenwärtig, als daß sich schnelle Antworten und voreilige Zukunftspläne schmieden ließen. Man bleibt zunächst der, der man ist, und nicht jeder, der auszieht, neue Erfahrungen zu machen, ist dazu umstandslos fähig. Aber bereits die Begegnung mit sich selbst und der eigenen Vergangenheit trägt zur Wahrheitsfindung bei.
Thomas Rosenlöcher: „Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise.“ edition suhrkamp, 1991, 90S., 10DM.
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