Warten auf Sparta

„Der Zikadenzüchter“ — eine Uraufführung im Münchner Marstalltheater  ■ Von Lilli Thurn und Taxis

Über allen Gipfeln ist Sparta, leuchtend rot, unaufhörlich. Ein Utopia, das in den Köpfen spukt. Ein Utopia derer, die ihre Nische, eine Felshöhle im Taygetos- Gebirge, nicht verlassen dürfen. Ausgestoßene sind sie, die Randgruppen von vorgestern. Sie passen nicht ins Schema der Gesellschaft, genügen nicht den ehernen Regeln der Spartaner. Die einen wegen einer Behinderung, ein anderer aufgrund seiner menschlichen Schwäche. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb werden sie wie Motten vom Licht angezogen, von der Illusion, das Glück gerade dort zu finden. Sie iedalisieren die Gesellschaft, die sie verstoßen hat. Zikaden — so nennt Autor Wolfgang Bauer die Ausgestoßenen — und ihr Zirpen ist bei Platon Symbol der ewigen Sehnsucht.

Ein alter Mann, Taygetos, der die Zikaden aufgezogen hat, weiß wovon er spricht, wenn er das Spartanische anklagt. Das Dabeisein-Wollen der Ausgesetzten aber ist stärker, der Lehrer kann seine Erfahrungen nicht vermitteln, scheitert und wird vertrieben.

„Der Zikadenzüchter“, das erste Theaterstück des 1963 geborenen Wolfgang Maria Bauer (nicht zu verwechseln mit dem Grazer Autor Wolfgang Bauer), wurde vergangenen Dienstag in der Regie von Kirsten Esch im Münchner Marstalltheater uraufgeührt. Der Schauspieler und Autor gehört, wie auch Regisseurin Kirsten Esch, die mit dem „Zikadenzüchter“ ihr Regiedebüt gibt, zum jungen Stamm des Staatsschauspiel-Ensembles. So kommt es nicht von ungefähr, daß Autor und Regie einander ergänzen, Differenzen in der Interpretation kaum auszumachen sind.

Bauer siedelt sein Stück in der klassischen Antike an. Er denkt das Schicksal der von den Spartanern ausgesetzten Kinder weiter und kreiert eine Gesellschaft der Außenseiter. Den Bezug zu den Randgruppen unserer Zeit herzustellen, bleibt dem Publikum überlassen. Taygetos' warnende Stimme, die unerhört bleibt, schlimmer noch: das Gegenteil erreicht. Die Aussätzigen, die sich gegenseitig ihrer Behinderungen bezichtigen, das friedliche Leben in ihrer Nische nicht zu schätzen wissen und nach Unerreichbarem streben. Zuletzt sind da die Spartaner, Befehlsempfänger, nur in der Gemeinschaft stark, strengsten Repressionen ausgesetzt. — Das Stück scheint vielversprechend: Werden Utopie und Realität aufeinandertreffen? Illusionen zerstört und neue geschaffen? So weit kommt es leider nicht. Der Autor läßt keine Auseinandersetzung zu. Vier spartanische Herolde töten die Ausgesetzten. Aber nicht weil sie anders sind oder aufgrund ihrer Behinderungen zu höherem Wissen gelangt wären. Nein, die Soldaten, die sich im Gebirge verirrt haben, handeln aus Angst vor der Strafe. Sie müssen die Zeugen ihrer Irrung beseitigen, wenn sie nicht ausgestoßen, zum Feigling, zum „Zitterer“ degradiert werden wollen wie einst Taygetos.

Drei Schauplätze kennt die Bühne von Christoph Sehl. Ein Rasenstück steht für die Zuflucht des Taygetos, die Drachenhöhle, ein Miniatur- Matterhorn aus Pappmaché für das Gebirge, in dem die Spartaner und Zikaden umherirren. Eine Feuerstelle nebst Matratzenlager stellt die Höhle der Zikaden dar. Über allem schwebt Sparta in Form eines Stadtmodells.

Die Zikadenhöhle wird von der schwächlichen Phyrne (Esther Hausmann) beherrscht. Sie, die nicht laufen kann, thront auf ihren Kissenbergen und verschafft sich mit ungeduldigem Aufschlagen ihres Stockes den nötigen Respekt. Dabei wissen ihre zerlumpten Kumpane sehr wohl, daß sie Sparta nie erreichen wird. Iodamos (Hans Piesbergen), von Beulen überzogen, verspricht sich von Sparta Heil für seine Wunden. Wenngleich er sich bereits von seinen Mitbewohnern insgeheim verspottet weiß und von den Spartanern wenig Besseres erhofft, ist der Gedanke an das Unerreichbare sein einziger Antrieb. Kalliope (Christiane Roßbach) fühlt sich aufgrund ihres Blindseins ausgeschlossen. Sie verachtet die einzige, die ihr Zuneigung entgegenbringt, die stumme Lykotheia (Tanja von Oertzen), für deren klettenhafte Anhänglichkeit. Allein macht sie sich auf den Weg nach Sparta.

Die Behinderungen der Zikaden leuchten rot. Bei Talos (Achim Barrenstein) das verkrüppelte Bein, bei Leon (Wolfram Rupperti) die tauben Ohren, bei Melanippe (Adelheid Bräu) ist es das schwachsinnige Haupt. Plump weisen diese Male auf die Defekte der jungen Menschen hin, die Wolfgang Bauer sonst sehr differenziert zeichnet. Sie sind feige, listig, eigensüchtig oder schlichtweg dumm, aber liebenswert. Mit den Herolden dagegen hat sich der Autor wenig Mühe gegeben. Er hat sie numeriert, ihren Uniformgrößen entsprechend, von XLarge bis Small. Die Assoziation des gehorsam unreflektierten Soldaten, wie sie Militärdiktaturen von heute und gestern hervorgebracht haben, liegt nahe. Die einzige Funktion ihrer Auftritte in roter Lackrüstung ist die Erheiterung des Publikums. Die Figuren bleiben Fassade, werden nicht weiter ausgearbeitet. Die Faszination, die Sparta ausgeübt haben muß, können diese Witzgestalten ebenso wenig deutlich machen wie die Darstellung dämlich-brüllender NS-Größen in irgendwelchen Hollywood-Produktionen.

Die Figur des Taygetos (Volker Spahr) nimmt dagegen äußerst menschliche Züge an. Er ist nicht der Demagoge mit der Heilsbotschaft, nicht einmal der Menschenfreund und Helfer, der die ausgesetzten Kinder um ihrer selbst willen gerettet hat. Sein Dasein ist bestimmt vom Haß auf Sparta — er kann seinen Ausschluß aus der Gesellschaft nicht verwinden. Die Kinder sind sein Lebensinhalt, eine Schar, die an ihn, den Vater und Lehrer, glaubt, ihn verehren soll. Er hat sich hoch oben im Gebirge seine Welt zurechtgezimmert.

Aber die Rechnung geht nicht auf. Auch die Zikaden entlarven, da sie erwachsen sind, den „Zitterer“, verstoßen ihn ebenso. Er bleibt der Aussätzige im Streifenmantel, dem Kennzeichen des spartanischen Parias. Dafür, daß Wolfgang Bauer die aktuellen Bezüge meiden wollte, winkt er hier heftigst mit dem Zaunpfahl.

Als erste trifft die blinde Kalliope auf die Herolde. Wie eine Ertrinkende das rettende Schiff begrüßt sie freudigst die Fremden. Voll Zutrauen verrät sie das Versteck der Freunde. Die Erkenntnis, daß die Freude keine beiderseitige ist, kommt spät. Doch da gibt es weder Trauer noch Wut, kein Bemühen um Verständnis. Als ihr befohlen wird, in den Tod zu springen, tut sie, wie ihr geheißen. Hier hätte Bauer seinen Zikaden eine Chance geben müssen. Zerstörte Illusionen oder heftiges Daranfesthalten. Ein Leben ohne Hoffnung oder freiwilliger Tod. Aber seine Figuren haben keine Wahl.

Noch weniger Gelegenheit zu verstehen, bleibt den anderen Zikaden. Die Soldaten überraschen sie in ihrem Versteck und töten sie, bevor auch nur das erste Wort gewechselt wird. Einzig die stumme Lykotheia überlebt. Mit ihren unentwegt staunend aufgerissenen Augen sieht sie auf das Massaker — und hat nichts verstanden.

„Der Zikadenzüchter“ von Wolfgang Maria Bauer. Regie: Kirsten Esch; Bühne: Christoph Sehl; Darsteller: Christiane Roßbach, Tanja von Oertzen, Adelheid Bräu, Esther Hausmann, Hans Piesbergen, Wolfram Rupperti, Achim Bauenstein, Andreas Wimberger, Franz Tscherne, Hans- Werner Meyer, Sebastian Fischer. Theater im Marstall, München. Weitere Vorstellungen: 27., 29. und 30.Juli.