: Olympische Klangfolter
Einen ihrer schwärzesten Augenblicke erlebten die antiken Olympischen Spiele, als der römische Kaiser Nero am Gesangswettbewerb teilnahm und diesen kraft seiner tyrannischen Autorität auch noch gewann. Dieser Schlag war nicht mehr zu verkraften, zwar vegetierten die Spiele noch einige Jahrhunderte dahin, aber ihr Schicksal war besiegelt. 393 wurden sie von Kaiser Theodosius endgültig abgeschafft.
Auch das neuzeitliche Olympia schwebt in akuter Gefahr. Doch es ist weder der übersprudelnde Kommerz noch das Doping, noch die Gigantonomie der Spiele, die den Untergang nahen lassen: es ist einmal mehr die Musik. Genauer gesagt, die Olympia-Songs, die alle Jahre wieder eigens für die Zelebration dieses globalen Sportfestes komponiert werden.
Olympische Klangfolter
Andrew Lloyd Webber, berüchtigt durch musikalische Karateschläge wie „Jesus Christ Superstar“, „Evita“ oder „Cats“, wußte genau, warum er seine Olympiahymne für Barcelona vom Computer auf Plagiatträchtigkeit untersuchen ließ. Zu leicht ging sie ihm von der Hand, zu bekannt kam ihm alles vor. Das Ergebnis der Analyse konnte kaum überraschen: Amigos para siempre ist keineswegs geklaut, aber es klingt trotzdem genauso wie sämtliche Olympiasongs vor und nach ihm. Ein eingängiger Ohrwurm wie Go For The Gold, Hand In Hand, Reach Out For The Medal — gut getarnte akustische Folterinstrumente, die schon nach drei Tagen olympischer Dauerberieselung jeden erreichbaren Nerv töten, die Nackenhaare sträuben, aus den Ohren quellen, Herzschmerzen verursachen, den Magen umdrehen, die Füße verbiegen und einen umgehenden Zahnarztbesuch unausweichlich werden lassen. Kein Highlight-Zusammenschnitt, kein Feature, das nicht mit diesen quälenden Errungenschaften zeitgenössischer Tonklempnerei untermalt wird. Ob Josep Carreras, Whitney Houston oder obskure Gruppen wie „The Winners“ — die Pein bleibt stets die gleiche.
Aber all das wäre ja gerade noch zu ertragen, gäbe es nicht die ARD. Faster, stronger, higher — hearts on fire in Barcelona, das ist der Gipfel. Die Aussicht, zwei Wochen lang eine derartige Marter ertragen zu müssen, läßt Verzweiflung und tiefe Trauer aufkommen. Selbst Nero könnte kaum schlimmer sein. Quo vadis, Olympia? Theodosius, hilf! Matti
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