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Abschiedschor für die Utopie

Neben der wasserarmen Oder diskutierten Jorge Semprun, Gregor Gysi und andere über linke Chancen  ■ Von Christian Semler

Frankfurt/Oder (taz) — „Prüfstein für jede linke Politik ist ihre Haltung zur Sowjetunion“ — dieser ebenso polarisierende wie inquisitorische Satz stammt aus dem Arsenal der dritten Internationale. Er sollte jeden Antifaschisten in die Zwangsgemeinschaft mit dem Stalinismus treiben. Für Jorge Semprun gilt er als Kriterium weiter, allerdings in umgekehrter Bedeutung. Schon 1981 postulierte er, daß links sich nur der nennen könne, der in der Kritik der Sowjetunion bis zum Ende gehe. Bis zum Ende — historisch bis zur Verwerfung der Oktoberrevolution, politisch bis zu der Einsicht, daß jede Reform des sowjetischen Zwangssystems „von oben“ vergeblich sei. In „Was für ein schöner Sonntag“ wagte es der ehemalige KZ-Häftling Semprun, den antifaschistischen Widerstandskampf der Kommunisten zu entmystifizieren: Wer über Stalin schweigt, soll nicht das Recht haben, über Hitler zu reden.

Zehn Jahre später, an einem schönen Samstagabend, ist Semprun Gast der neu gegründeten Universität „Vidriana“ in Frankfurt — an der Oder. Die verglaste Rückfront des Foyers gibt den Blick frei auf das gemächlich dahinfließende Gewässer. Keine Wachtürme, keine Grenzposten mehr, der Verkehr rollt unkontrolliert über die Brücke ins benachbarte Slubice. Eine Idylle — wüßte man nicht, daß flußauf- und abwärts Jagd gemacht wird auf „ilegale Grenzgänger“, hauptsächlich Bürger Rumäniens, die den nierdrigen Wasserstand zur Flucht nutzen. Zeit, „über Europa nachzudenken“. Das zumindest haben sich die Veranstalter der gleichnamigen Vortragsreihe vorgenommen. An diesem Abend nun ist das Thema „Europa, Linke ohne Utopie“ an der Reihe.

Für Semprun ist der Abschied von der Utopie Voraussetzung jeder künftigen linken Theorie und Praxis. Utopisch war die Idee der universellen Klasse, die mit ihrer eigenen Befreiung die Menschheit befreien wird. Vom Sog der Utopie mitgerissen, nahmen große Teile der linken Intelligenz stets Partei für Voluntarismus und Subjektivismus und gegen die „Rechten“ als vermeintliche Verteidiger des schlechten Bestehenden, so Semprun. Aber auch die Sozialdemokraten verfehlten, indem sie paternalistisch und staaatsfixiert auf die Machteliten im sowjetischen Hegemonialbereich setzten, ihre historische Aufgabe. Nicht nur gemessen an der Forderung, die Menschenrechte zu verteidigen, war ihre Handlungsweise falsch. Sie verspielte auch die Interessen der ausgebeuteten Massen in der Sowjetunion und Osteuropa. Dies um den Preis, daß linke Alternativen heute in der Region auf absehbare Zeit keine Chance haben. Sempruns Kritik am Utopismus fand an diesem Abend keine Widersacher. Auch Gregor Gysi stimmte zu, mit zwei Einschränkungen: man müsse die Oktoberrevolution nach wie vor als das soziale Ereignis des Jahrhunderts werten. Ein neuer Horizont sei aufgerissen worden, um dann allerdings wieder verdunkelt zu werden. Und: die Verwirklichung der Utopie, der Realsozialismus, habe immerhin den Kapitalismus zur permanten Selbstreform gezwungen.

Wenn also der Traum von der neuen Welt ausgeträumt, wenn der Horizont der bürgerlichen Gesellschaft nicht „transzendierbar“ (Semprun) ist, worin kann dann heute linke Politik bestehen? Semprun bereitet die Selbstdefinition als Linker keine Schwierigkeiten. Links ist, wer konsequent die Menschen und Bürgerrechte verteidigt, gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit auftritt, auf der Seite derer steht, die durch die Krise des Kapitalismus marginalisiert werden und wer die Idee der europäischen Einheit als Voraussetzung eines gerechten Ausgleichs mit den armen Nationen vertritt. Nicht der Staat dürfe mehr der Ausgangspunkt linken Denkens sein, sondern die Kräfte der gesellschaftlichen Selbstorganisation, der „Zivilgesellschaft“. Eine kohärente politische Strategie folge daraus nicht. Sie zu entwickeln, könne auch nicht die Aufgabe einer der bestehenden Parteien sein, die sich, wie die sozialdemokratischen, in einer tiefen Legitimationskrise befänden.

Diesen nicht gerade bestürzend neuen Gedanken wußten die anderen Diskussionsteilnehmer wenig mehr hinzuzufügen. Sergio Segre, Deutschlandexperte der PCI (und nunmehr der italienischen PDS) bezog sich auf Weizsäckers „Zeit-Gespräche“ als dem non plus ultra gegenwärtigen, fortschrittlichen Denkens. Gregor Gysi beschwor zum x-ten Mal das weltweite, ökologische Katastrophenszenario. An ihm müsse sich die Kapitalismuskritik schärfen. Wie es zu bewältigen sei, wußte auch er nicht zu sagen — außer „mit den Mitteln der Demokratie“. Keine Debatte über Utopismus ohne Melvin J.Laski, den Spaßvogel und das alte Schlachtroß des Kalten Krieges. Über seine Injurien gegen Marx durfte sich das ansonsten eher stille Publikum ereifern. Etwas aus der Rolle fiel der Architekt und KPF- Aktivist Claude Schnaidt. Er langweile sich, betonte er mehrmals. Wer an die Verbesserbarkeit der Welt glaube, müsse auch ein Projekt dafür haben. Da er aber nicht verriet, welches, wurde Podium wie Publikum seiner Ausführunen überdrüssig. Peter Merseburger, der, zerknittert und gebeugt unter der Last der Welt, die Diskussion leitete, entzog ihm schließlich das Wort.

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