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Gott im Exil

Gershom Scholem zeichnet das Leben des „falschen Messias“ Sabbatai Zwi nach: eine Erforschung der Gegengeschichte  ■ Von Martina Kirfel

Die Geschichte gibt Rätsel auf: Da verkündet ein Mann aus Smyrna, er sei der Messias, man hält ihn für krank, vom bösen Geist besessen. Die jüdische Gemeinde verbannt ihn. Fast zwanzig Jahre später, 1665, tritt derselbe Mann, Sabbatai Zwi, wieder als Messias auf. Diesmal liegt ihm fast die ganze jüdische Welt zu Füßen. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich das messianische Fieber in Palästina und in der jüdischen Diaspora — vom Jemen bis nach Persien, von Nordafrika über Kleinasien bis nach Italien, Holland, Polen und Rußland. In Massen schließen sich die Juden Sabbatai Zwi an, geführt von ihren Rabbinern. Die wenigen Skeptiker und Gegner schweigen, verstecken sich aus Angst, im messianischen Aufruhr zu Schaden zu kommen.

Der neue Messias, Sohn Davids, verkündet die kurz bevorstehende Erlösung und ruft zur Buße auf. Allein in Alexandria, damals eines der größten jüdischen Zentren, geht ein Drittel der Gemeinde in Sackleinen. Viele kasteien sich und hüllen sich in Nesseln. Überall verheiratet man Hals über Kopf die jungen Leute, denn bei der Ankunft des Messias sollen die Seelen „verteilt“ sein. Männer, Frauen, Kinder winden sich in Krämpfen und stammeln Weissagungen über Sabbatai Zwi, den „König Israels“.

Wegen der anhaltenden Bußübungen kommt das Geschäftsleben in weiten Teilen der jüdischen Welt zum völligen Stillstand. Die Juden aus Alexandria schreiben nach Livorno, man möge ihnen keine Geschäfte mehr anbieten. In Westeuropa beginnen sie, ihre Schulden einzutreiben, sogar ihren Besitz zu verkaufen, um für den Aufbruch nach Palästina bereit zu sein. Deutsche Landesfürsten sehen sich gezwungen, ihre Ausreise per Dekret zu verbieten. Sie befürchten den Zusammenbruch auch des christlichen Handels.

Die Juden bleiben — wenn auch aus einem anderen Grund. Auf dem Höhepunkt der Bewegung, als alle glauben, der Messias werde nun den Thron des Sultans besteigen, tut Sabbatai etwas völlig Unerwartetes: Er tritt zum Islam über. Vom Sultan vor die Alternative Tod oder Turban gestellt, wählt er den Turban und lebt weiter als Günstling des Sultans.

Diese Geschichte war mehr als ein peinlicher Zwischenfall: Die Hochspannung der messianischen Erwartung kollabierte und entlud sich ins Nichts, Sabbatais Gefolgschaft indes zerstreute sich nicht so schnell, wie man hätte annehmen können. Denn Sabbatai hatte den Gesetzesübertritt zu einer heiligen Handlung erklärt. Viele sahen in seinem Abfall vom Glauben daher gerade eine Bestätigung seiner messianischen Würde. Sabbatiarische Sekten existierten noch bis ins 20.Jahrhundert. Die letzten ermordeten die Nazis 1942 in Saloniki.

Der falsche Messias Sabbatai Zwi hat die gesamte jüdische Welt nachhaltig erschüttert. Die traditionelle jüdische Geschichtsschreibung hatte die Figur heruntergespielt, verdunkelt, bis sich Gershom Scholem ihrer annahm und sie rekonstruierte. Seine Untersuchung „Sabbatai Zwi — der mystische Messias“, 1957 in hebräisch erschienen, liegt jetzt erstmals in auch deutsch vor.

Scholem, schon 1923 nach Palästina emigriert, lehrte dort seit 1933 die Erforschung der jüdischen Mystik. Auf tausend Seiten entwickelt er ein Bild des Judentums um 1650. Mit kriminalistischer Genauigkeit versucht er, die Beweggründe dieses größten messianischen Ausbruchs der jüdischen Geschichte herauszufinden. Er sichtet Archivmaterial — Hunderte von Briefen, die damals zwischen den jüdischen Gemeinden kursierten. Er erforscht die messianische Überlieferung in der zeitgenössischen Kabbala. Er deutet verloren geglaubtes und verschlüsseltes Material.

Jeder, der den tausendseitigen Band zur Hand nimmt mit dem ernsthaften Vorhaben, ihn auch zu lesen, will eigentlich nur eines wissen: Wie war es möglich, daß praktisch eine ganze Glaubensgemeinschaft einem Narren aufsitzt und in einer Welle des Irrationalismus aus dem Alltag aussteigt, um sich ganz auf das Kommen des Messias einzurichten? Das wollte auch Scholem wissen. Ihm lag als Aufklärer daran, Licht in die verdunkelte Sache des Sabbatianismus zu bringen. Gleichzeitig beschäftigte ihn das Problem des bis heute wirkenden Messianismus.

„Sabbatai Zwi war zweifellos ein kranker Mann“, sagt Scholem. Er litt an einer manisch-depressiven Psychose mit paranoiden Zügen. Zustände tiefster Melancholie wechselten mit normalen Phasen und solchen „ekstatischer Erleuchtung“. Sonst ein gottesfürchtiger Jude, zu jeder Fastenübung und Kasteiung bereit, beging Sabbatai in seinen „erleuchteten Phasen“ „befremdliche Handlungen“. Einmal versammelte er seine Freunde und kündigte an, die Sonne am Mittag stillstehen zu lassen. „Und sie gingen auf die Berge hinauf, und Sabbatai gebot mit mächtiger Stimme der Sonne stillzustehen, und so taten auch seine Jünger, bis sie sich schämten“, berichtet ein Zeitgenosse. Später machte Sabbatai aus Fasttagen Festtage, änderte die heiligen Rituale und erhob den Gesetzesbruch zur heiligen Handlung. Doch war Sabbatai nicht wirklich kreativ, kein Prophet und erst recht kein Religionsstifter. Diese Lücke füllte Nathan von Gaza, dem Sabbatai auf seiner Wanderschaft begegnete. Nathan wurde für ihn Johannes der Täufer und Petrus zugleich. Er bestärkte ihn in seinem messianischen Auftreten, fast überredete er ihn dazu. Er war Kopf und Drahtzieher der Bewegung. Scholem zeigt, daß die von Nathan aufbereiteten messianischen Botschaften gerade da am erfolgreichsten waren, wo Sabbatai nicht war, wo nur die Schilderungen zusammen mit Nathans Bußaufrufen und gelehrten Rechtfertigungen eintrafen. Daß der Narr Sabbatai schließlich als Messias anerkannt wurde, war allein Nathans Verdienst.

Nathan besaß deshalb eine solche Durchschlagskraft, weil er sich der Ideologie der damals herrschenden mystischen Strömung, der lurianischen Kabbala, bediente. Ursprünglich war die Kabbale eine Geheimlehre, eine mystische und magische Gegenströmung zur rationalen rabbinischen Tradition, die sich auf die Gesetze und einen abstrakten Gottesbegriff gründete. Im 17.Jahrhundert hatte sich die lurianische Kabbala zur allgemein akzeptierten jüdischen Theologie entwickelt. Ursache für diese Verschiebung waren die wiederholten und einschneidenden Erfahrungen von Verfolgung, der die Juden seit dem Ende des Mittelalters ausgesetzt waren. Dazu gehörten die Vertreibung der sephardischen Juden aus Spanien 1492 genauso wie die polnischen Massaker seit 1648, die bis in die fünfziger Jahre hinein immer wieder aufflackerten. Das Trauma der Vertreibung, des permanenten Exils, führte zu einer existentiellen Verunsicherung. Der ständigen Frage nach dem Sinn dieses Leidens gab die lurianischen Kabbala eine Antwort. Sie entwarf einen Gott, der sich in sich selbst zurückgezogen hatte, der selbst im Exil war. Exil und Erlösung wurden auf eine göttliche Ebene übertragen. Erlösung bedeutete die Wiederherstellung der außer der Ordnung geratenen kosmischen Konstellationen. Damit erfüllte die Kabbala auf einmal eine „soziale Funktion, da sie eine Ideologie für eine Volksreligion lieferte“.

Scholems opus magnum gehört zu den ganz großen Leistungen jüdischen Denkens dieses Jahrhunderts. Unprätentiös, in einfacher und klarer Sprache faßt er einen so komplizierten Gegenstand wie die Strömungen der Kabbala des 16. und 17.Jahrhunderts zusammen. Sein System aus Religionsgeschichte, neuzeitlicher jüdischer Lebenswelt und individuellen Schicksalen ist kohärent. Die Stringenz, die das historische Detail mit den Thesen verknüpft, überzeugt. Am Ende steht der Leser da und staunt: nicht allein deshalb, weil Scholem ihm ein grandioses Stück Forschung vorgeführt hat, sondern weil er ihm mit den Mitteln der Ratio immer wieder deren Grenzen gezeigt hat.

Sabbatai Zwi ist Gegengeschichte. Aufklärung und Assimilation hatten die Juden großteils von ihrer mystischen Tradition abgeschnitten. Scholem setzte den Schwerpunkt seines Lebenswerks auf den geheimnisvollen Gegenstand Kabbala. Er wurde zum Begründer ihrer Wissenschaft: „Die Philologie einer mystischen Disziplin wie der Kabbala hat etwas Ironisches“, bemerkt er. Sie beschäfige sich mit einem Nebelschleier, der den Raum der Sache selbst umhängt, „ein Nebel freilich, der aus ihr selbst dringt“. Die meisten modernen jüdischen Philosophen vor ihm hatten die gesamte mystische Theologie für absurd, gefährlich und nicht erforschenswert gehalten. So galt denn auch Scholems Interesse an der Kabbala im Berlin der zwanziger Jahre bestenfalls als extravagant. Scholems Vater, ein assimilierter Jude deutschnationaler Gesinnung, warf ihn aus dem Haus. Verständnis zeigte Walter Benjamin, mit dem ihn eine enge Freundschaft verband.

„Die Kabbalisten wußten etwas, was wir nicht wissen“, sagt Scholem. Die Kabbala sei eine negative Theologie, die das Wesentliche verschweige. Das tut auch Scholem — mit Methode. So hält er ein „künftiges Wiederherausspringen des Heiligen“ für möglich, während Benjamin auf das Projekt einer Vollendung der Moderne und das Aufgehen der Theologie in Profangeschichte setzte.

Scholems Forschung ist keine Esoterik. Im Schlußkapitel heißt es, die Predigten der Sabbatianer hätten erstaunliche Ähnlichkeit mit denjenigen der frühen Christen. „Die Analogie enthüllt ein psychologisches Substrat, das allen messianischen Erweckungen gemeinsam war.“ Indem er uns die unserer Gegenwart abgewandt scheinende Welt der lurianischen Kabbala vorführt, spricht Scholem eines der großen Themen der abendländischen Tradition an — den Glauben an Fortschritt und Erlösung.

Gershom Scholem: „Sabbatai Zwi — der mystische Messias.“ Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 1992, 1.193S., geb., 120DM.

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