piwik no script img

INTERVIEW„Geschichte heißt Unordnung“

■ Wir brauchen die Linke, aber eine selbstkritisch erneuerte

Jorge Semprun, antifaschistischer Widerstandskämpfer, ehemals Mitglied des Politbüros der KP Spaniens, hat in einer Reihe großer Romane und Erzählungen die „totalitäre Versuchung“ beschrieben. Politisch stand er lange den spanischen Sozialisten nahe und war mehrere Jahre Minister für Kultur.

taz: Sie haben sich lange und erfolgreich mit der Kritik des linken Utopismus beschäftigt. Wäre es jetzt nicht an der Zeit, sich dem konservativen Utopismus zu widmen, der vom Markt die Lösung aller Übel erwartet und die Geschichte im entwickelten Kapitalismus vollendet sieht?

Jorge Semprun: Die Marktgesellschaft ist eine Bedingung des Wirtschaftens, ein gesellschaftlicher Horizont, aber keine Utopie. Sie beinhaltet nicht die Vorstellung eines Idealzustandes. Soll die Dynamik des Marktes kontrolliert werden? Ich glaube, ja. Mit staatlichen oder mehr mit Hilfe gesellschaftlicher Mittel? Ich würde das letztere vorziehen. Die These Fukuyamas von der Vollendung der Geschichte ist vollständig absurd. Das genaue Gegenteil ist richtig. Wir stehen vor einem Neuanfang der Geschichte. Daß wir so wenig über die Entwicklungsrichtung wissen, ist nicht tragisch. Eher heilsam, nachdem die teleologische Geschichtsbetrachtung so viel Unheil angerichtet hat.

Die Auseinandersetzung mit dem linken Utopismus ist noch nicht überflüssig geworden. So wie ich Marx verstanden habe, ist sein Denken antiutopisch, auf Wissenschaftlichkeit gerichtet. Jetzt kommen ehemalige oder Noch-Marxisten und fordern: „Wir brauchen eine neue Utopie“! Seltsam. Wir brauchen kritische und vor allem selbstkritische Wissenschaft.

Was heißt heute links sein?

Nicht nur die europäische Gesellschaft, die Weltgesellschaft braucht die Linke. Natürlich weiß ich, daß die traditionellen Organisationen und Ideen der Linken ausgebrannt sind. Aber die linke Position ist eine moralische, politische — fast würde ich sagen — ontologische Notwendigkeit. Links sein heißt für mich die Erkenntnis, daß die Gesellschaft verbesserungswürdig und -fähig ist und der leidenschaftliche Wille, diese Erkenntnis in die Tat umzusetzen. Verstanden als permanente Aufgabe.

Wie soll sich diese Haltung von der eines zeitgenössischen Liberalen unterscheiden?

Der liberale Impetus erschöpft sich darin, den Freiheitsraum gegenüber der Staatsmacht zu sichern, bestenfalls zu erweitern. Was der Liberalismus gesellschaftlich vorschlägt, ist undurchführbar, es widerspricht der Menschennatur. Man kann eine Gesellschaft nicht nur auf der Konsumentenfreiheit begründen. Sie braucht andere Werte, oder sie zerfällt. Auch wenn man kein „Jenseits“ der jetzigen Gesellschaft mehr ins Auge fassen kann, wenn man sie nicht mehr für transzendierbar hält — man darf nie mit ihr zufrieden sein.

Was heißt das, die gegenwärtige Gesellschaft ist nicht transzendierbar?

Natürlich wäre es töricht, für eine ferne Zukunft zu behaupten, daß die Entwicklung der Produktivkräfte neue gesellschaftliche Verhältnisse nicht möglich machen würde. Für die nächsten Jahrzehnte aber meine ich, daß die auf dem Privateigentum an wesentlichen Produktionsmitteln begründete Marktgesellschaft nicht aufgelöst werden kann — und auch nicht werden sollte. Dies akzeptiert, beginnt der Kampf um ihre Verbesserung, um mehr Gerechtigkeit.

Sie haben sich mit einer gewissen Leichthändigkeit als Linken bezeichnet. Aber was folgt aus dem individuellen „Linkssein“ für eine mögliche Strategie „der Linken“?

Natürlich kann ich mich, täglich, wöchentlich, als Linker proklamieren. Auch im Alltag kann man leicht eine Verständigung darüber erzielen, was und wer links ist. Eine kollektive Strategie zu erarbeiten ist eine ganz andere Sache. Abgesehen von den damit verbundenen theoretischen Problemen gibt es auch die Schwierigkeit, in einer Demokratie ohne grundlegende Alternativen eine Massenbasis für eine reformistische Politik zu finden. Vergessen wir nicht, die totalitären Systeme hatten gerade wegen ihres utopischen Kerns eine große Anziehungskraft. Auch heute, nach dem Zusammenbruch der Totalitarismen, besteht daher für die Linken die Versuchung, wieder an die vergangene Terminologie des „Bruchs“ mit dem Kapitalismus et cetera anzuknüpfen. Linke Theorie kann über den Realsozialismus nicht hinweggehen wie über einen Betriebsunfall. Vor einer neuen Programmatik und den damit verbundenen Wertentscheidungen muß eine tiefgehende Selbstkritik stehen — auch bei den sozialdemokratischen Parteien.

Hängt die Krise der sozialdemokratischen Parteien auch mit ihrer vergangenen Haltung gegenüber den realsozialistischen Regimen zusammen?

Ich glaube, ja. Es gibt zwei Gründe, die scheinbar entgegengesetzt sind. Zum einen hatte die Sozialdemokratie keine authentische, kräftige antisowjetische Strategie. Damit meine ich natürlich keine militärpolitische, sondern eine gesellschaftliche Strategie. Der Preis, den die Linke dafür zu entrichten hat, ist der Sieg der Neoliberalen und Konservativen in den ehemals sozialistischen Ländern. Zum zweiten ist es unbestreitbar, daß zumindest einige sozialdemokratische Parteien es seit den zwanziger Jahren versäumt haben, eine eigene und eigenständige Position in ökonomischen und gesellschaftlichen Fragen auszuarbeiten. In den romanischen Ländern wurde — trotz aller Abgrenzung gegenüber dem Stalinismus — auf den „gesellschaftlichen Bruch“ orientiert. Mit anderen Worten: Es gab keine sozialdemokratische Theorie der Marktwirtschaft. Nach Jahrzehnten der planwirtschaftlichen Rhetorik schwenkte man — zumindest in der Praxis — auf die liberale Version um.

Die SPD macht geltend, erst die von ihr ins Leben gerufene Entspannungspolitik hätte in letzter Konsequenz den Sturz der realsozialistischen Machteliten herbeigeführt...

Das ist natürlich eine sehr bequeme Methode, um sich um die Erkenntnis herumzudrücken, daß es in erster Linie die Intransigenz konservativer westlicher Regierungen war, einschließlich ihrer Militärpolitik, die die sowjetische Führung in Schwierigkeiten brachte.

Wie verhalten sich zwei Jahreszahlen zueinander: Helsinki 1975 und die Gründung von Solidarnosc 1980?

Vorsicht! Aus dem, was ich gesagt habe, folgt nicht, daß die „Neue Ostpolitik“ keinen Einfluß hatte und auch haben mußte. Es geht um die Gewichtung bei der Analyse. Und, wie Mao Tse-tung einmal sagte, es kommt immer darauf an, auf zwei Beinen zu gehen.

Konkret gefragt: Hat die internationale Sozialdemokratie zu einseitig auf die realsozialistischen Machthaber und auf die Reform „von oben“ gesetzt?

Das hat sie. Natürlich mußte man Gorbatschow unterstützen. Aber dies im Bewußtsein, daß das sowjetische System nicht reformierbar war. Die Alternative für die Sowjetunion hat stets gelautet: „Zurück zur Diktatur oder nach vorne ins Unbekannte“. Wie andere politische Strömungen im Westen auch haben die Sozialdemokraten stets Ordnung und Stabilität geliebt. Aber die Geschichte besteht nun mal aus Unordnung.

Sie waren mehrere Jahre Minister in einer sozialdemokratischen Regierung. Trauen sie den europäischen Sozialdemokraten einen Innovationsschub zu?

Wenn ich die Parteien ansehe, die ich besser kenne, also die französische und spanische, bin ich nicht sehr optimistisch. Interview: Christian Semler

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen