: Weder FIS-Komplott noch Einzeltäter
■ Offizielle algerische Kommission zur Untersuchung des Attentats auf Boudiaf belastet die Armee
Paris (taz) — Mohamed Boudiaf, der ermordete algerische Präsident, war noch nicht unter der Erde, da glaubten viele AlgerierInnen schon zu wissen, wer seine Mörder waren: Generäle, Nomenklaturisten und Geheimdienstler. Und möglicherweise hatten sie mit ihren Vermutungen recht. Einen Monat später nämlich tastet sich auch die amtliche Untersuchungskommission vorsichtig an die Erkenntnis heran, daß Boudiaf einem Komplott in den Streitkräften zum Opfer fiel. Es ist das Ende der These vom Einzeltäter oder von der Verschwörung der islamistischen FIS.
Letzten Samstag übergab der Vorsitzende der Untersuchungskommission, Ahmed Boucheib, ein alter Freund Boudiafs, dem Hohen Staatskomitee seinen ersten Bericht und einen 62minütigen Zusammenschnitt aus Filmen des algerischen Fernsehens. Der ganze Attentatsfilm ist immer noch nicht freigegeben. Die Kommission kommt zu zwei Schlüssen: Der Attentäter, Unterleutnant Boumaarafi, hat nicht das Profil eines islamistischen Kamikaze-Attentäters, und die Sicherheitskräfte haben den Mord mit etlichen „kriminellen Nachlässigkeiten“ begünstigt. Elitesoldat Boumaarafi, so fanden sie heraus, hätte sich am 29. Juni gar nicht in Annaba befinden dürfen. Seine Einheit, eine Sondereingreiftruppe („Groupe d'Interventions Spéciales“, GIS) war nie zuvor mit dem Präsidentenschutz beauftragt worden — dafür gibt es den SSP („Service de Sécurité Présidentielle). Die Kommission konnte nicht klären, wieso SSP-Kommandant Hadjres die GIS angefordert hatte. Boumaarafi war zuerst nicht einmal auf der Einsatzliste. Er galt seinen direkten Vorgesetzten als „undiszipliniert“ und mit islamistischen Sympathien belastet. Sein Gebiet waren gleichwohl Spezialeinsätze wie die Verhaftung der FIS-Chefs Abassi Madani und Ali Benhadji oder die blutigen Säuberungsaktionen in den großen Armenvierteln. Sein letzter Einsatz gegen die Islamisten hatte mehrere Tote gefordert. Dennoch wurde Boumaarafi per individuelle Spezialorder nach Annaba kommandiert. Befehlsgeber: GIS-Chef Kommandant Hammou. Die Kommission nennt das eine „Nachlässigkeit“.
Merkwürdigerweise blieben die GIS- und SSP-Offiziere an diesem Tag außerhalb des Kulturpalastes und überließen dem unsicheren Kantonisten Boumaarafi das Kommando. Die drei SSP-Agenten, die nie von der Seite des Präsidenten weichen, wurden — ein weiteres „Versehen“ — wegbefohlen. Der Mörder stellte sich hinter Boudiaf auf, durch einen Vorhang verdeckt, neben ihm diverse Sicherheitsleute. Erst zog er eine Granate ab, dann leerte er das Magazin einer Maschinenpistole in den Rücken Boudiafs. Kein Leibwächter intervenierte, auch nicht, als Boumaarafi ruhig davonging. Der einzige SSP-Mann, der sich dem Mörder in den Weg stellt, wird „aus Versehen“ von einem Mann Boumaarafis über den Haufen geschossen. Im Sprachgebrauch der Kommission: „Mangelnde Koordination zwischen den Diensten“. Daß die Ambulanz kein Wiederbelebungsgerät hatte und der Chauffeur den Weg ins Spital nicht fand, sind nur noch Marginalien.
Unterm Strich das Drehbuch einer geplanten amtlichen Liquidation — doch zu solcherlei Feststellungen fehlt der Kommission das Mandat. Sie will das Weitere den Gerichten überlassen: Die Kommandanten Hadjres und Hammou sind, mit acht Sicherheitsleuten, festgesetzt worden und sollen dem Richter erklären, wer die diversen „Nachlässigkeiten“ befohlen hat. Ein früherer Minister der Regierung Ghozali kommentiert das erstaunliche Treiben: „Alles nur show time. Daß die Kommission überhaupt arbeiten durfte, zeigt, wie gespalten die Armee ist und welche Bedeutung die Junta der Öffnung zu den Gemäßigten beimißt. Sollte es wirklich zum Prozeß kommen, sind Abrechnungen in der Generalität angesagt. Und dann Gnade uns Gott.“ Oliver Fahrni
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