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Das Haus auf dem Dach

„Die rote Laterne“ von Zhang Yimou ist einer der schönsten Filme des Jahres, aber die Schönheit ist mörderisch  ■ Von Christiane Peitz

Die Laternen sind schwer. Die roten bauchigen Papierlampions hängen an einem hölzernen Gerüst; wenn der Befehl ertönt, wird das Gestänge von mehreren Dienern in den Hof getragen und angezündet. Der älteste unter den Dienstleuten hebt die erste Laterne mit Hilfe eines langen Bambusrohrs an einen Haken unter dem Dachfirst, die anderen reichen ihm die nächsten — schnelle, routinierte Handgriffe. Wenn eine Laterne auf einen Haken rutscht, gibt es ein lautes Geräusch wie von einem Schlag. Auch die Lampions im Hausinneren werden entzündet, bis der gesamte Gebäudekomplex in festlichem Licht erstrahlt. Das feurige Rot fällt auf die graue Steinlandschaft des Innenhofs, als wärmten sich die Mauern am Laternenschein. Trommeln schlagen, Mägde eilen herbei, auf tritt der Hausherr.

Heute ist Hochzeit. Chen, Oberhaupt eines mächtigen Klans, heiratet Songlian, seine vierte Nebenfrau. Deshalb hängen die Laternen im vierten Hof und deshalb werden Songlian von der alten Dienerin die Füße massiert. Der Meister liebt das rote Licht für den Beischlaf, und er hält die Massage für sexuell stimulierend. Das Klöppeln der Fußhämmerchen ist auch im dritten, zweiten und ersten Hof zu hören. Die Frau, bei der der Meister die Nacht verbringt, wird bevorzugt behandelt, vom Personal respektiert und darf auch über die anderen Nebenfrauen verfügen. So sind das Klöppeln und die Laternen die Insignien ihrer Macht.

Jeden Abend müssen sich die vier Nebenfrauen mit ihren Mägden aus den Innenhöfen an die Tore zum Vorplatz begeben. Der alte Diener eilt mit einer roten Laterne herbei und stellt sie vor der Auserwählten auf. Dann erst erfolgt der Befehl zum Herbeibringen der übrigen Laternen — ein militärisch knapper Ruf. Fällt eine Frau in Ungnade, werden die Lampions mit dem Bambusrohr ausgepustet. Es klingt jedesmal wie ein Schuß. Und gilt eine Frau als entehrt, werden die Laternen schwarz verhüllt. Wie Trauerflore hängen die schwarzen Tücher dann vor den Mauern, und der Hof liegt verlassen im Schatten, als sei die Bewohnerin gestorben. So ist es Tradition.

Wir sind im Nordchina der zwanziger Jahre, der Zeit der Feudalherrschaft. Songlian ist neunzehn Jahre alt, Studentin. Ihr Vater stirbt früh, das Geld fehlt für die Universität, deshalb muß sie heiraten. Songlian tritt von der Straße in Chens Haus, eine Landschaft aus Ziegeln und Backsteinen, mit Innenhöfen, Durchgängen, Toren, Treppen, steinernen Dämonen und anmutig geschwungenen Dächern, verwinkelt wie ein Labyrinth: ein Gefängnis aus Schönheit. Keine Pflanze wächst an diesem Ort, und den Himmel sieht man nie. Immer wieder schweift der Blick über die Mauern und Dachziegel; die Jahreszeiten erkennt man nur an der Witterung — sie werden durch Zwischentitel angezeigt.

Auf der obersten Dachterrasse steht einzeln ein kleines zusätzliches Haus, mit einem schweren Schloß davor. Darin hängt ein Strick. Man nennt es das Totenhaus. Songlian erfährt nur, daß Frauen darin gestorben sind.

Songlian lernt die Gepflogenheiten des Hauses kennen und sie trifft die anderen Nebenfrauen. Sie nennen einander Schwestern und essen gemeinsam. Die Älteste, deren Sohn schon erwachsen ist, die freundliche, immer lächelnde Zhuoyun und die hochnäsige Meishan, die einmal Opernsängerin war und manchmal noch auf die Dächer steigt, um zu singen. Auch Meishan hat einen kleinen Sohn, Zhuoyun hingegen nur eine Tochter. Mädchen zählen nicht als Nachkommenschaft. Das ist das Wichtigste: Dem Herrn einen Sohn schenken. Deshalb muß jede Frau dafür sorgen, daß die Laternen so oft wie möglich zu ihr getragen werden. Deshalb intrigieren die Frauen gegeneinander. Die Freundlichkeit Zhuoyuns ist da nur eine Technik. Denn Zhuoyun beherrscht die Regeln des Kampfs um die Macht am besten. Die Frauen haben keine Wahl. Solidarität würde nur ihr gemeinsames Ende bedeuten. Das Überleben jeder einzelnen hängt davon ab, wieweit die anderen ausgeschaltet werden können. Hinter den Zeremonien und Ritualen verbirgt sich weit mehr als der Streit um Privilegien. Es geht buchstäblich um Leben und Tod. Meishan wird in das Häuschen auf dem Dach gebracht werden, Songlian wird darüber den Verstand verlieren. Und der Meister wird die fünfte Frau heiraten.

„Es gibt keinen Weg nach draußen“, sagt Zhang Yimou, der chinesische Regisseur. Dennoch ist „Die rote Laterne“ keine aggressive Anklage gegen die Diktatur, keine wütende Abrechnung mit den Machthabern. Der Hausherr bleibt anonym, sein Gesicht erfaßt die Kamera nie. Yimous Film richtet sich nicht gegen einzelne Täter, sondern gegen die Unmenschlichkeit eines Systems, dem sogar das Klanoberhaupt unterworfen ist und das die Untergebenen zwingt, selber zu Unmenschen zu werden. Er verzichtet auf brutale Szenen ebenso wie auf politische Appelle oder psychologische Innenschau. Die strenge Ästhethik der Bildkompositionen, die vornehme Zurückhaltung jeglicher Dramatik ist selbst so unerbittlich wie die Familienrituale. Das rote Licht der Laternen, die Anmut der Dächer, die Höflichkeit der Dienstleute, der zuvorkommende Umgangston — irgendwann läßt sich all das kaum mehr ertragen. Die Schönheit ist das Mörderische.

„Die rote Laterne“ ist zwar mit chinesischen Fördermitteln finanziert, produziert wurde der Film jedoch von der Tochtergesellschaft einer taiwanesischen Produktionsfirma in Hongkong. Yimous Verzicht auf jeglichen expliziten Vergleich zur aktuellen Lage Chinas rührt dennoch von der Zensur. Der Regisseur sagt selbst, daß er auch diesen Film für die Chinesen gedreht hat. Nach „Kas rote Kornfeld“ und „Judou“ ist „Die rote Laterne“ sein pessimistischstes Werk: eine Parabel auf die politische Stagnation nach dem Massaker auf dem Tiennanmen. Noch für den europäischen Zuschauer wird die Last des Verbots im Film zur physischen Erfahrung. Wenn die Dächer und Mauern des Chen-Hauses am Ende vom Winterschnee bedeckt sind, möchte man, daß die Steine endlich aufhören zu schweigen.

Als Yimou „Die rote Laterne“ im vergangenen Herbst auf der Biennale in Venedig vorstellte, bat er bei der Pressekonferenz darum, auf Fragen zur Politik zu verzichten. Als der Film im Juli auf dem Münchener Filmfest seine deutsche Premiere feierte, sagte Yimou kurzfristig ab. Vom Verleih war zu erfahren, daß er wieder in China arbeiten kann und sich die Gunst der Kulturbehörden nicht durch eine Westreise verscherzen will. Am gleichen Tag war in den Zeitungen von der Hinrichtung von 39 angeblichen Drogenhändlern zu lesen und vom Amnesty-Bericht über tausend Hinrichtungen in China im vergangenen Jahr. Eine Kurzmeldung, unter „Vermischtes“. China ist kein Thema mehr. Yimous Film wird wie in dieser Zeitung auch in den anderen deutschen Feuilletons gelobt werden, und die Kritiker werden auch weiter keine Fragen nach der Politik stellen. „Die rote Laterne“ ist in China übrigens verboten.

Zhang Yimou: „Die rote Laterne“, nach einem Roman von Su Tong, mit Gong Li, He Caifei, Cao Cuifeng, China/Hongkong 1991, 125 Min.

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