Zum Fingerzeigen wahrlich kein Anlaß

■ Die Entwicklung Italiens ist auch von Europa mitverschuldet

Zum Fingerzeigen wahrlich kein Anlaß Die Entwicklung Italiens ist auch von Europa mitverschuldet

Sizilien von fast zwei Divisionen Alpen- und Fallschirmjägern besetzt, Patrouillen an jeder Straßenecke, Verfassungs- und Menschenrechte reihenweise außer Kraft gesetzt: Italien erlebt Notstandszeiten wie noch nie seit dem Krieg, die Terrorismus-Blüte der siebziger Jahre eingeschlossen. Ein eigener Antimafia-Geheimdienst soll Ordnung schaffen (man fragt sich freilich, was die anderen drei Geheimdienste derzeit zu tun haben). Der Spiegel schreibt vom „politischen und wirtschaftlichen Verfall“ des Landes, von „Absturz zum Dritte-Welt-Land“. Doch Fingerzeigen ist leicht — und gerade in diesem Falle völlig unangebracht. Die katastrophalen Verhältnisse im EG- Gründungsland Italien nämlich sind keineswegs nur hausgemacht; wir alle haben kräftig mitgeholfen, daß es wurde, was es ist.

Ohne große Einwände haben wir die Dreiteilung akzeptiert, welche die „starken“ EG-Chefs aus Frankreich und Westdeutschland (später kam England dazu) von Anfang an anstrebten: einen Kernbereich aus Führungsstaaten, einen Pufferring und dann die Peripherie, das Armenhaus. Italien sollte in seinem Norden dem Zwischenring, im Süden dem Armenhaus angehören. Schizophrenie war für das Land vorprogrammiert, und schizophren ist es mittlerweile denn auch geworden: mit einem Norden, der mit seiner Mailänder Börse Frankfurt nacheifert, und einem Süden, in dem ein Leben, wie der ermordete Staatsanwalt Falcone es ausdrückte, „weniger wert ist als ein Hosenknopf“.

Wir schauen untätig zu, wenn die EG-Kommission im Falle Italiens immer nur das eine unter die Lupe nimmt: das Haushaltsdefizit. Da werden Budget-Löcher bis auf die letzte Lira ausgezählt. Doch die genaue Zahl der von Mafia, Camorra, Ndrangheta und sonstigen Dunkelmännerzirkeln Ermordeten läßt uns ziemlich kalt. 2.000, 2.500 in einem Jahr? Allenfalls horchen wir auf, wenn im Zuge eines neuen Attentats bekannt wird, daß der Mann vielleicht eine German Connection verfolgte. Wie, kommen die nun auch zu uns? Oder wenn wir hören, daß die Gangster ihr vieles Geld auch in deutschen Aktien anlegen und so zu Börsenmanipulationen imstande sind — verdammt, die gehen an mein Erspartes.

„Italienische Verhältnisse“ aber drohen nicht nur wegen des Zuzugs von Sizilianern, sondern weil inzwischen noch andere Länder durch den Verfall ihrer politischen Kultur höchst anfällig geworden sind für das Eindringen mafioser oder anderer Arten von Dunkelmännern — in die Institutionen. Seit Jahren gibt es diesbezügliche Warnungen; Italien hätte zum Pilotprojekt einer europäischen Gegenwehr gegen diese Entwicklung werden können. Doch man wog sich in der Sicherheit, daß derlei eben nur in Italien passieren könne. Und wie es aussieht — siehe Spiegel —, sind wir noch immer nicht so weit, die Entwicklung im Süden als europäisches Desaster anzusehen, als cosa nostra sozusagen, sondern als ausschließlich italienische Angelegenheit. Werner Raith, Rom