■ ARTUR, BERLIONID
: Die Würde des Widerstands

Es gibt, murmelte Artur, schon entschieden sonderbare Typen. Kürzlich traf ich einen alten Freund aus den Jahren, in denen wir noch recht hatten, wieder, der ist bei einer Behörde tätig, und, obwohl latent von anfälligerer Natur, hat er bis heute noch keinen ernsthaften Schaden davongetragen; er kennt halt die Zusammenhänge.

Ich bin, hat mir mein alter Freund aus schwerer Zeit zwischen zwei Tassen Kaffee mit einem leicht ins Stumpf-Innerliche abgleitenden Grinsen fassungslos berichtet, ich bin denn wohl doch dabei, alt zu werden.

Einfühlsam, berichtete Artur weiter, habe er den Freund ermuntert weiterzusprechen, doch der tat sich schwer, nuschelte irgendwas von Umgangsformen und fassungslos, er sei fassungslos, es gäbe offenbar Dinge...

Artur erzählte weiter von mühevollen Beruhigungsversuchen seinerseits, die schließlich gefaßte Klarheit zeitigten. Wie überall auf der Welt trifft man auch in Behörden jenen Menschenschlag, den man »Obskur-Optimisten« nennen könnte, immer fröhlich und guter Dinge, bisweilen etwas erdig orientierte Personen. Ziehen sich häufig auf das zurück, was ihnen sicher erscheint, solche Menschen, setzte Artur spitz hinzu, weil sie wie wir wohl auch, längst keinen Durchblick mehr haben.

In der Behörde, in der der Freund sein Überleben verdient, gibt es gewisse Rituale oder auch ungeschriebene Verpflichtungen. Jede(r) Mitarbeiter(in) ist gehalten, eine Tageszeitung zu lesen. So auch der besagte Freund. Der wäre, sagt Artur, an seinen Schreibtisch gegangen, hätte seine geliebte taz darauf gelegt, gefaltet, versteht sich, und hätte dann rituell seine morgendliche Notdurft verrichtet.

Zurück im Büro hätte er sich der Lektüre widmen wollen, als ihm — Schockschwerenot! — auffiel, daß aus einer Seite fein säuberlich ein Titel rausgeschnitten worden war.

Tja. Nun ist es in dem Haus so, daß die Türen fast stets unverschlossen sind und jede(r) in fast jedes Büro kann. Aus welchen Überlegungen heraus der Verdacht entstanden sei, könne der Freund in der Behörde nicht erläutern, jedenfalls sei er schnurstraks zu der Kollegin gegenüber gegangen, jener, die seit langer Zeit an dem Entwurf eines Therapiekonzepts für alleinerziehende Väter hochbegabter Zwillinge arbeitet, und er habe ihr auf den Kopf zugesagt, sie und niemand anders hätte seine Zeitung zerschnitten, oder besser, geplündert, an seinem Tisch, mit seiner Schere. Die Kollegin hätte dieses »Mystik-macht-uns-frei«-Lächeln angelegt und ihm einsfünfzig angedient, für eine neue.

Selbst Artur kann über diese Sache überhaupt nicht lachen. Sein Freund aus der Behörde habe noch glaubhaft versichert, er habe der Kollegin höflich, aber bestimmt vorgetragen, er verbitte sich solche Akte der Piraterie mit allem Nachdruck, das sei ja eine Unverschämtheit, jedoch habe er sich nicht getraut zu verlangen, daß die Dame auf der Stelle ein neues Exemplar besorgt, aber subito. Sie habe so entwaffnende Verharmlosungsworte benutzt, hätte er gesagt, und so fein gelächelt, das sei ihm erst eingefallen, als es längst zu spät war. Clemens Walter