: Unendlicher Alptraum
■ Mark Beyers Comics jetzt auch auf deutsch
Mark Beyers Comics verbinden die Schrecken der Alpträume mit der Naivität von Kinderphantasien und Märchen. Mit Kinderzeichnungen sind seine Bilder durch das Fehlen der dritten Dimension verwandt, die Figuren sind stets flach, präzise umrissen und fremdartig wie Traumgestalten. Die Perspektiven sind verzerrt wie in den Dekorationen expressionistischer Stummfilme; es gibt keinen Halt in diesen Bildern, keine Sicherheit, der zu trauen wäre: Der Boden kann jederzeit einbrechen. Jordan und Amy, die beiden Figuren, die durch diese kindliche Angsthölle treiben, sind aberwitzigen Schrecken ausgesetzt. Sie werden von einem Gespenst geköpft, von einem riesigen Fisch gefressen, von Eingeborenen gefangengenommen und von Gefängniswärtern verprügelt. Auch auf den eigenen Körper ist kein Verlaß: Plötzlich kann er sich aufösen, bis nur noch ein Gerippe übrig ist, oder der Kopf schwillt an, bis er das ganze Zimmer ausfüllt. Ebenso grotesk sind die Wendungen der Geschichte, die Zufälle, die in letzter Sekunde die Rettung bringen: „Wer über Märchen lacht, war nie in Not.“ (Alexander Kluge)
Spätestens wenn Amy darüber grübelt, daß „der kleine Teil von meinem Gehirn, der mein Leben steuert, aus dem Leim sein muß“, wird klar, daß die Schrecken nicht nur aus der Außenwelt kommen. Am Ende des Buches liegen Jordan und Amy im Bett, so als ob sie nach ihren Abenteuern nicht einschlafen, sondern aufwachen würden: eine versteckte Hommage an den großen Comiczeichner Winsor McCay, dessen „Little Nemo in Slumberland“ am Ende der Strips stets aus seltsamen Traumwelten aufwacht. Er liegt zwischen den Kissen und reibt sich die Augen oder ist aus dem Bett gefallen. Aber noch dieses friedliche Bild, das alle vergangenen Schrecken als nur geträumt erscheinen läßt, ist bei Mark Beyer gebrochen. Während Amy seufzt „Vielleicht wird nun alles gut“, sieht man hinter der Tür die nächste Schreckgestalt auftauchen, ein riesiger Hund mit einem bluttriefenden Messer: Es gibt kein Entrinnen aus Beyers Alptraumuniversum.
Mark Beyers Comics sind von gängigen Comics so weit entfernt wie Samuel Beckett vom Broadway. Mit „Agony“ liegt die erste deutsche Publikation seines Werkes vor. Neben Büchern und Plattencovers für die „Residents“ hat er Strips unter anderem in Art Spiegelmanns New Yorker Comic-Zeitschrift Raw — The Graphix Magazine That Lost Its Faith in Nihilism veröffentlicht, dem Zentralorgan der Comic-Avantgarde.
Mark Beyer ist zweiundvierzig Jahre alt, lebt „in transit“, gibt keine Interviews und ist ein Genie. Peter Laudenbach
Mark Beyer: „Agony“. Aus dem Amerikanischen von Uli Becker. Maro Verlag, 173Seiten, 20DM.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen