: Das schärfste Rückendekolleté
■ Arletty war nicht nur Frankreichs größter Star, sie hat auch das „kleine Schwarze“ erfunden, sagt der Couturier Azzedine Alaia
Am Freitag letzter Woche starb Arletty im Alter von 94 Jahren (siehe unseren Nachruf vom Montag). Das „monstre sacré“ (Libération) des französischen Kinos, die fatale Schöne aus den „Kindern des Olymp“, die Abgesandte des Teufels aus den „Visiteurs du soir“ ist dem großen Publikum in Deutschland erstaunlich unbekannt. Noch unbekannter dürfte sein, daß sie eine enge Freundin und — als eine seiner ersten Kundinnen — eigentlich auch die Entdeckerin des tunesisch-französischen Modeschöpfers Azzedine Alaia war. Alaia gilt als Wiederentdecker der taillierten Linie, die sich inzwischen in der Frauenmode wieder durchgesetzt hat und als Erfinder des schwarzen Bodys. In einem Interview mit Libération gibt er zu, daß ihn Arletty auf diese Idee brachte: „Den Coup mit den schwarzen Bodies als Basis der Kleidung habe ich bei ihr geklaut: Sie trug schon in den fünfziger Jahren Tanztrikots von Repetto unter ihren Kostümen. Auch die Idee fürs ,kleine Schwarze‘ kommt von ihr, erstens wegen des berühmten Reißverschlußkleids in ,Hôtel du Nord‘, und zweitens weil sie, wie sie sagte ,eine Jungfrau des Schmucks‘ war. Übersetzung: keine Accessoires, keine Juwelen, nur schwarze Strümpfe und leichte flache Schuhe.“
Kennengelernt hat Alaia die Schauspielerin in den fünfziger Jahren: „Es war im Algerienkrieg — ich kam aus Tunesien, aber da machten die Franzosen wenig Unterschiede. Arletty kümmerte sich nicht darum. Kategorien wie Rasse, Nation, Religion oder Klasse waren ihr sowieso scheißegal. Schon bevor ich sie kannte, faszinierte mich ihre Silhouette in den Filmen, ihr kaiserlicher Wuchs. Und dann stellte man sie mir vor, in einer Theaterloge, sie spielte in einem schlechten Stück von Marcel Achard. Sie dreht sich um, taxiert mich und sagt: ,Sie sind klein, aber man sieht Sie!‘ Sie hat sofort ein Kostüm bei mir bestellt, in rosa Satin, weil man darin so gesund aussieht.
Aber vor allem war sie für mich so eine Art Führerin in ein Frankreich, das ganz anders war als das Frankreich, das mich terrorisierte. Das ist durch die Sprache gekommen. Ich hatte noch nie ein solches Französisch gehört, dichte kurze Sätze, wie Zärtlichkeiten oder Ohrfeigen. Dieser zutiefst rebellische Geist war etwas Neues im Leben eines ganz kleinen Tunesiers in seiner Dienstbotenkammer im vornehmen 16. Arrondissement von Paris. Ihre Sätze waren wie Schlagzeilen, Nachrichten des esprit parisien und über die Pariserin. Sie war nicht irgendeine Pariserin: Sie kam von den großen Boulevards, den Cafés, der Straße, der Bohème. Sie war der Typ der kleinen Pariserin, die total abgebrannt ist und sich fragt, wie sie sich mit ihrem kleinen V-Ausschnitt-Pulli zur großen Eleganten verwandeln kann. Allez hop! Sie dreht den Pulli um, zurrt den Gürtel eng, und schon hat sie das schärfste Rückendekolleté in der Stadt. So ist das, sie ist die Herzogin der Straße! Das ist die Quintessenz des Arletty-Systems: den schlimmsten Lagen mit Esprit begegnen.
So muß man auch die berühmte Anekdote mit den Perrugia-Schuhen verstehen, die sie in ,Hôtel du Nord‘ trug. Damit hat sie ihre ganze Gage verbraucht. Schuhe sind für eine Prostituierte eben ein wichtiges Arbeitsmittel, und außerdem, so sagte sie, sind hohe Hacken besser, wenn man einen Hängehintern hat. Unsere Arlettys von heute sind die Mädchen aus den Vorstandgangs, Königinnen der Eleganz!
Meine Bewunderung für Arletty geht weit über Modesachen hinaus. Es ist ganz einfach: ich habe nie wieder eine so freie Frau getroffen.“ Übersetzung: thc
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen