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Ein Monument des Thatcherismus

Der größte Bürohaus- und Vergnügungskomplex Europas im ehemaligen Londoner Hafengebiet wurde unter Vergleichsverwaltung gestellt/ Die Mieter blieben trotz massiver Lockangebote aus  ■ Aus London Ralf Sotscheck

Es sollte die „Wall Street auf dem Wasser“ werden: die Londoner Docklands. Als Kernstück war im früheren Hafengebiet der größte Bürohaus- und Vergnügungskomplex Europas auf der Canary Wharf geplant — ein Musterbeispiel für den Traum der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher, brachliegende Stadtteile von der Privatwirtschaft sanieren zu lassen.

Der Traum jedoch ist bereits vor Fertigstellung der ersten Bauphase zum Alptraum geworden. Die Eigentümerin der Canary Wharf — die britische Niederlassung der kanadischen Baufirma Olympia & York (O&Y), des größten Immobilienkonzerns der Welt — wurde Ende Mai von einem Londoner Gericht wegen Zahlungsunfähigkeit unter Vergleichsverwaltung gestellt und der Weiterbau gestoppt. „Das Projekt war zu gut für die Briten“, sagte Paul Reichmann, einer der fünf Brüder, denen O&Y gehört.

Canary Wharf steht bei einem Dutzend Banken mit insgesamt 1,2 Milliarden Pfund (cirka 3,5 Milliarden Mark) in der Kreide. Weltweit hat der Reichmann-Konzern über 30 Milliarden Mark Schulden. Die Banken waren nicht bereit, weitere 500 Millionen Pfund für den Weiterbau des Londoner Prestigeprojekts herauszurücken. Außerdem gelang es O&Y nicht, den vereinbarten Zuschuß für den Anschluß an das U- Bahn-Netz aufzubringen. Das Unternehmen sollte 400 Millionen Pfund zur Verlängerung der Jubilee- Linie in die Docklands beisteuern.

Die britische Regierung betonte, daß sie der kanadischen Firma keinesfalls mit Steuergeldern aus der Patsche helfen werde. So wurde auch der Bau der U-Bahn, auf dem 4.000 Menschen Arbeit hätten finden sollen, vorerst auf Eis gelegt. Ohne U- Bahn ist jedoch nicht nur Canary Wharf, sondern das gesamte Hafengebiet todgeweiht.

Die Docklands Light Railway, eine Hochbahn durch das Hafengebiet, gilt als unzuverlässig und ist häufig außer Betrieb, die schmalen Straßen sind meist verstopft. Eine Umfrage unter den Angestellten der Firma Grand Metropolitan hat ergeben, daß über 60Prozent eher kündigen würden, als sich in die Docklands versetzen zu lassen.

Doch auch mit der U-Bahn wären die Aussichten keineswegs rosig. Der bereits vor zehn Monaten fertiggestellte Zentralbau der Canary Wharf, ein 250 Meter hoher Wolkenkratzer mit 48 Stockwerken und 115.000 Quadratmetern Bürofläche, steht trotz Lockpreisen noch immer zu mehr als einem Drittel leer. Kein Wunder, wurden doch während des Baubooms allein im Jahr 1989 fast 1,2 Millionen Quadratmeter Bürofläche in der Londoner Innenstadt geschaffen — viermal soviel wie 1986.

Aufgrund der Rezession, die täglich 160 Firmen in den Konkurs treibt, sinkt die Nachfrage jedoch stetig — und die Preise verfallen: In der Innenstadt sind die Büromieten in den vergangenen drei Jahren halbiert worden. So sehen die meisten Firmen gar keine Notwendigkeit, nach Osten in den alten Hafen zu ziehen.

Die Brüder Reichmann bemühten sich noch vor der Fertigstellung des Büroturms, des höchsten Gebäudes in Großbritannien, verzweifelt um Mieter. Man versprach potentiellen Kunden die Ausstattung der Büros und bis zu vier Jahre Mietfreiheit. Darüber hinaus erklärten sich O&Y bereit, für die alten Büros der neuen Mieter aufzukommen, falls sich kein Nachmieter finden ließe. Doch auch das nützte nichts: Neun der 20 größten leerstehenden Büroblocks stehen in den Docklands, sieben davon auf der Canary Wharf.

Die Brüder Reichmann entstammen einer jüdischen Familie, die während des Zweiten Weltkriegs vor den Nazis aus Ungarn nach Tanger geflohen ist. Dort machten sie mit Devisengeschäften ein kleines Vermögen, bevor sie nach Toronto auswanderten und ein Kachel-Importgeschäft aufzogen. Später stiegen sie in das Immobiliengeschäft ein und spezialisierten sich auf wirtschaftliche Randgebiete. Bestes Beispiel für die Risikobereitschaft der Reichmann- Brüder bei ihren Spekulationsgeschäften ist das World Financial Centre in Manhattan.

Was ist beim Projekt Canary Wharf schiefgegangen? Zwei Dinge: das Timing und die Ortswahl. Die Rezession, die wenige Monate nach der Unterzeichnung des Drei- Milliarden-Pfund-Vertrags 1987 in Kanada, den USA und Großbritannien einsetzte, brachte auch die Reichmanns in Bedrängnis. O&Y gehören in New York 14 Hochhäuser mit einer Bürofläche von über zwei Millionen Quadratmetern. In der Stadt herrscht ein derartiges Überangebot, das die Mieten und Preise für Wolkenkratzer in den Keller gedrückt und zahlreiche Immobilienunternehmen in den Konkurs getrieben hat.

Mitte Mai hatten O&Y für ihre kanadischen und einen Teil ihrer US- amerikanischen Operationen Schutz vor Gläubigern beantragt. Zur Finanzierung des Londoner Projekts wandten sich die Brüder an die Banken — zu einem Zeitpunkt, als die Zinsrate unaufhaltsam stieg.

Die Reichmanns hatten sich vom Traum Margaret Thatchers anstecken lassen, die aus den Docklands ein Erfolgssymbol für den internationalen Kapitalismus machen wollte. Beispiele für polyzentrische Wirtschaftsentwicklung gab es zwar in den USA mit Los Angeles, Atlanta und Houston, doch in London tendierten die Wirtschaftsplaner Ende der achtziger Jahre dazu, neben der City und dem West End das innerstädtische Kernstück zwischen Fleet Street, Holborn und The Strand wieder zu neuem Leben zu erwecken und zum dritten Wirtschaftszentrum der englischen Hauptstadt aufzubauen. Doch auch dieses Vorhaben ist aufgrund der Rezession nicht über das Reißbrett hinausgekommen.

Die Vergleichsverwalter Ernst & Young suchen unterdessen fieberhaft nach Investoren, die bereit sind, das finanzielle Loch zu stopfen. Bis Ende dieses Monats haben sie dazu Zeit. Sollten sie es in dieser Frist nicht schaffen, stehen die Gläubigerbanken vor einem Dilemma: Sollten sie sich entschließen, O&Y das zum Weiterbauen nötige Kapital vorzustrecken, würde sich der Büromarkt wegen des so entstehenden Überangebots vermutlich nicht mehr erholen und die Banken wären ihr Geld los.

Halten sie die Canary Wharf dagegen mit monatlichen kleinen Summen gerade noch über Wasser, würden sie dadurch potentielle Mieter abschrecken, die befürchten müßten, daß ihr Vermieter jeden Augenblick pleite machen kann. Und sollten sie Konkursverwalter einsetzen, würden sie damit auch gleich die Probleme der Reichmanns bei der Suche nach Mietern übernehmen.

So können die Vergleichsverwalter davon ausgehen, daß die Banken auch nach Ablauf der Frist stillhalten werden. Ernst & Young setzen ihre Hoffnungen auf die Regierung und bedrängen sie, zahlreiche Behörden in die Docklands zu verlegen. Die Firma geht vermutlich zu Recht davon aus, daß die Torys trotz gegenteiliger Beteuerungen nicht tatenlos zusehen werden, wie ihr größtes Projekt den Bach runter geht. So wird wohl zumindest die erste Bauphase in irgendeiner Form fertiggestellt. Dann allerdings weniger, wie geplant, als Symbol für den Aufschwung, sondern als Mahnmal gegen den Thatcherismus.

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