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Pritzels Flüchtlinge gehen an den Kühlschrank

Seit ein paar Tagen hat die 37jährige Karin Kusterer Flüchtlinge aus Sarajevo bei sich in Oberbayern aufgenommen  ■ Von C. Emundts & H. Thomsen

München (taz) — Jasminas Gesicht ist müde, ihre Augen sind gerötet. Vom Aschenbecher weg wandern die Hände immer wieder zum Säugling Anella herüber. Wortfragmente und Stimmfetzen eines Langwellensenders mit Funkkontakt nach Sarajevo surren aus dem Radio.

Eigentlich wollte Karin Kusterer ein Adoptivkind. Aber weil der Behördendschungel sie abschreckte, kam sie auf die Idee, ein Flüchtlingskind aus Bosnien aufzunehmen. Ein Kind ohne Mutter war jedoch nicht zu haben. Deshalb sitzen heute vier Menschen aus Sarajevo in der Küche von Kusterers Eigenheim in Schwifting, einem trauten Dorf in Oberbayern: Jasmina (28) mit ihrer Tochter Anella (10 Wochen) und ihrem Sohn Anel (5) sowie Jasminas Schwester Medina (18). Die 37jährige Karin Kusterer, promovierte Kunsthistorikerin, Slawistin und selbst Mutter von zwei Kindern, empfindet es jetzt „als Bereicherung, Menschen aus einer anderen Kultur dazuhaben“.

Zusammen mit ihrer Freundin Elke Pritzel hat die Hausfrau mittlerweile einen Verein gegründet, der Spenden für Bürgerkriegsopfer sammeln und Flüchtlingsfamilien in Deutschland an Privatfamilien vermitteln soll. Anlaß waren „die schrecklichen Fernsehbilder aus dem ehemaligen Jugoslawien“, so Kusterer. Ihre Freundin ergriff vor rund zwei Wochen die Initiative, also noch bevor das Kontingent von 5.200 bosnischen Flüchtlingen in Deutschland eintraf. Elke Pritzel wandte sich zunächst an bundesdeutsche Behörden, die ihr aber nur Steine in den Weg legten. Daraufhin nahm sie Kontakt mit der österreichischen Hilfsorganisation „Nachbarn in Not“ auf. „Die österreichische Hilfsorganisation hat jede Unterstützung vom Staat. Darum müssen wir hier noch kämpfen“, klagt Karin Kusterer.

Jasmina bringt ihrer Gastgeberin den Kaffee auf die Terrasse. Dann zieht sie sich wieder zu ihrem Baby und dem Radio in die Küche zurück. „Gestern abend haben wir versucht, über Politik zu diskutieren“, erzählt Karin Kusterer, „aber wir haben schnell aufgegeben.“ Jasmina schaut mit harten blauen Augen nach draußen. Sie weiß, daß über sie gesprochen wird. Versteht nichts. Ihr Sohn bringt ihr ein kleines Wörterbuch. Karin Kusterer zückt ihre neugekaufte Grammatik „Serbokroatisch in 30 Stunden“. Die geographischen Grenzen Jugoslawiens, Österreichs und Deutschlands sind überwunden. Die sprachliche Grenze trennt unerbittlich. Karin Kusterer: „Wir würden uns gern unterhalten, aber wir schweigen uns nur an.“

Wenn gar nichts mehr geht, ruft Karin Kusterer einen Dolmetscher an. Das hat sie getan, um „meinen Flüchtlingen“ klar zu machen, daß sie ihren Aufenthalt nicht abarbeiten müssen. „Ich mußte ihnen anfangs den Putzlappen aus der Hand reißen“, sagt Karin Kusterer eigentlich ganz zufrieden. Pritzels Flüchtlinge gingen ja ungefragt an den Kühlschrank. Ihre täten sowas nicht.

Jasmina wirkt verloren in der sauberen Küche mit hellem, glänzendem Holz und Gänsebildern an den Wänden. Innerlich ist sie ganz woanders: bei ihrem Mann und ihren Verwandten im zerstörten Sarajevo, von denen sie seit zwei Monaten keine Nachricht hat. Großfamilien, das wurde in den letzten Tagen deutlich, haben so gut wie keine Chance, privat untergebracht zu werden. Karin Kusterer bestätigt Angaben des Bayrischen Sozialministeriums, daß die meisten Anrufer nur ein Kind oder eine Mutter mit Kind aufnehmen würden. „Alte Leute unterzubringen ist das größte Problem“, berichtet eine kroatische Mitarbeiterin der Caritas München. Die meisten Angebote seien seriös, so Kusterer, aber es gebe auch schwarze Schafe darunter. Zum Beispiel der Mann, der einen „hübschen Jungen“ wollte, oder die, die auf ein paar billige Arbeitskräfte spekulierten. In den letzten Tagen ist außerdem die Begeisterung etwas rückläufig. Trotzdem könne ihr Verein auf Anhieb hundert Menschen aus Bosnien privat unterbringen.

Wer einen Flüchtling privat bei sich aufnimmt, muß eine Verpflichtungserklärung unterschreiben, die viele Familien abschreckt: Sämtliche Kosten, die für den Gast anfallen, sind zu übernehmen. Von Kost und Logis und ärztlicher Behandlung bis zur eventuellen Abschiebung. Höchstens drei Monate, so lange sie als Touristen gelten, dürfen die Bürgerkriegsflüchtlinge in den Privatquartieren wohnen bleiben. Anschließend müssen sie entweder Asyl (wenn sie in Deutschland bleiben wollen) oder Duldung (wenn sie nach Kriegsende heim wollen) beantragen. Von diesem Moment an nimmt sich der Staat ihrer an.

Jasminas Geschichte hat die Gastgeberin teilweise entschlüsseln können: Die Moslemin hatte vor ihrer Flucht Sarajevo nie verlassen. Sechs Tage nach Anellas Geburt schickte sie ihr Mann auf die Flucht. Unterwegs wurde sie mit ihren Kindern von serbischen Freischärlern gefangen und in eine Turnhalle gesperrt. Eine Turnhalle — wo und wann läßt sich nicht klären. Dort gab es keine Nahrung, und Jasmina hatte Angst, das Baby werde verhungern, weil ihre Muttermilch versiegte. Nach drei Tagen ließen die Serben sie frei und brachten sie an die kroatische Grenze. So gelangte Jasminas Familie in ein Flüchtlingslager unter UN- Aufsicht.

Entlang des Holzzauns um Kusterers Anwesen blühen hüfthoch die Sonnenblumen. Kinderspielzeug verteilt sich über alle drei Etagen und den großen Garten. Hühnerpockern. Babygeschrei. Die oberbayrische Idylle scheint unwirklich angesichts Jasminas Gegenwart. Denkt sie an die Zukunft? Jasmina hat im Verlaufe des Vormittags nur einen Satz wiederholt: „Ich denke an Sarajevo.“

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