: „Braunes Netz“
■ Organisierter Rechtsextremismus
Medien und Politik werten die meisten der über 1.000 ausländerfeindlich motivierten Straftaten, die in den ersten vier Monaten dieses Jahres bereits wieder verübt worden sind, in der Regel als Spontantaten alkoholisierter jugendlicher Einzeltäter. Wer aber dahinter organisierten Rechtsextremismus und Neonazismus vermutet, wird als Anhänger von Verschwörungstheorien geziehen. Das Buch „Drahtzieher im braunen Netz“ gibt auf 176 Seiten einen Einblick in das Organisationsgeflecht deutscher und internationaler rechtsextremer Organisationen, deren Kontakte bis tief in den Bereich des Konservatismus hineinreichen.
Das Buch ist eine Ost-West- Koproduktion autonomer AntifaschistInnen aus dem Westberliner Antifaschistischen Infoblatt und dem Ostberliner telegraph. Die Autoren haben die Ergebnisse ihrer jahrelangen Recherchen zusammengetragen. In Zusammenarbeit mit dem renommierten englischen Antifa-Magazin Searchlight und dem Fernsehjournalisten Michael Schmidt ist dabei ein Who' s who? des organisierten Neonazismus entstanden mit Personen- und Organisationenregister und einer Chronologie über die organisatorische Entwicklung des Rechtsextremismus in der BRD nach 1945. Im Zentrum stehen dabei die Strukturen der „Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front“, ein hauptsächlich von dem an Aids verstorbenen Michael Kühnen gestricktes Netz, das sich als Avantgarde zum Wiederaufbau einer neuen NSDAP versteht und insbesondere in Ostdeutschland nach dem Fall der Mauer die Fäden in der Hand hielt. Mit der Veröffentlichung der Konterfeis von über 200 jungen und alten Nazis entreißen die Autoren diese der Anonymität, in der sie bislang meist ungestört agieren konnten, und machen sie für jedermann als Drahtzieher identifizierbar.
Die Autoren beginnen ihre Darstellung mit der sog. Revisionismusoffensive, dem seit zwei Jahren verstärkten Versuch alter und neuer Nazis aus dem In- und Ausland, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu relativieren und zu leugnen. Bei der bislang bedeutendsten Veranstaltung am 21. April 1990 im Münchener Löwenbräukeller saßen Altnazi Otto Ernst Remer, der Rechtsterrorist Manfred Röder, der Brite David Irving, Michael Kühnen und der Adenauer-Preisträger und Theoretiker des Konservatismus, Gerd Klaus Kaltenbrunner, einträchtig nebeneinander. Die Autoren konstatieren, daß gerade aufgrund solcher gemeinsamer Themen in den letzten Jahren „die Konkurrenzen und Eifersüchteleien sowie die taktisch bedingten Abgrenzungen sich seriös gebender faschistischer Parteien gegenüber den militanten Neonazis deutlich zurückgegangen“ seien.
Auch wenn man die Schlußfolgerung der Autoren nicht teilt, daß „die Bedrohung durch eine neue faschistische Massenbewegung in Deutschland an Gestalt“ gewinne und es „viele deutliche Parallelen zum Aufstieg der NSDAP in den 20er und 30er Jahren“ gebe, wird in dem Handbuch deutlich, wie die Modernisierung rechtsextremer Ideologieansätze angesichts rassistischer Ansätze in der offiziellen Politik (Asyldebatte) auf fruchtbaren Boden fällt. Die Autoren verstehen ihre Dokumentation als Teil einer Gegenstrategie, indem Drahtzieher faschistischer Organisationen ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt und dadurch die Basis für effektiven Widerstand geschaffen würden. Bernd Siegler
„Drahtzieher im braunen Netz“, 176 Seiten, B5-Format mit rund 200 Fotos, Edition ID- Archiv, Amsterdam-Berlin 1992, 20 DM
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