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Der Kino und die verbotene Frucht

■ Zelt-, Kneipen-, Wanderkino: Uni Oldenburg erforscht Geschichte des ostfriesischen Kinos / Zum Beispiel „Ackermann's Elektro-Biograph“

„Natürlich kann man sagen: soll sie doch verlorengehen, die Geschichte der kleinen Kinos...“, beinah hätte der Oldenburger Professor Jens Jürgen Thiele resigniert mit den Schultern gezuckt. Aber nur beinah! Thiele arbeitet in einem relativ neuen Forschungsbereich: Er will die Kultur der Wander-, Zelt- und Kneipenkinos seit der Jahrhundertwende vor dem Vergessen bewahren. Sein Schwerpunkt: Ostfriesland.

Ein Blick zurück nach Paris: 1895 fährt eine Lokomotive direkt auf die Menschen zu, scheint sie unter ihrer Schnauze zu begraben. Aufschreie, Fluchtbewegungen und dann — ist alles nur ein Film, und die Erschrockenen können begeistert in die Kinositze zurückfallen.

Sie waren ZeugInnen der offiziell ersten Filmvorführung, auf einem Apparat der Brüder Lumiere, dem „Kinematographen“. Ein neues Medium ist entdeckt, und alle möchten dabeisein. Aber wie? Es gibt noch kaum Vorführgeräte, und von jedem der frühen Kurzfilme existiert immer nur eine einzige Fassung.

„Vollständig belebte Bilder in natürlicher Größe“

Um 1900 waren es existenzsuchende Abenteurer, die die Marktlücke ausnutzten und das sensationelle Medium unter die Leute brachten. Sie investierten in einen teuren Projektor (2.000 Mark) und eine Handvoll Filme (ca. 200 Mark pro Stück) und zogen damit durch die Lande. Für 50 Pfennig Eintritt konnte man dann in gemieteten Gasthaussälen das Wunder bestaunen. Dabei durfte gegessen, getrunken und geredet werden, nur eines war allerstrengstens verboten: das Rauchen. Schon der kleinste Funke hätte das Zelluloid der Filme, die anfangs einfach in langen Schlangen auf dem Boden ringelten, explosionsartig entzündet. (Eines der ersten festen Ortskinos, das „Apollo“ in Emden, brannte schon eine Woche nach seiner Eröffnung vollständig aus.)

Die Filme waren tatsächlich ein Wunder, auch wenn sie zunächst nichts weiter zeigten als ein Stück Alltag. Es war vor allem die rätselhafte Technik, die Zuschauer und Lokalpresse emphatisch reagieren ließ. In einer ersten Besprechung im „Wilhelmshavener Tageblatt“ von 1896 klingt das so: „ Zwischen Fußgängern bewegen sich Radfahrer, Omnibusse, Motorwagen; die Menschen begrüßen sich durch Hutabnehmen, Winken u.s.w., kurzum es sind vollständig belebte Bilder in natürlicher Größe.“ Gerade daß in diesen „Dokumentarfilmen“ nicht wie im Theater inszeniert wurde, nichts „puppenhaft oder mechanisch“ erschien, war so faszinierend.

Schnell aber reichten die kurzen Filmchen und Vorführungen in muffigen Gasthäusern nicht mehr, die Wirkung verpuffte, die Leute wollten Neues sehen. Bevor sich ab 1908 Ortskinos etablierten, mit wechselndem Programm und längeren Spielfilmen, gab es die Epoche der wandernden Zeltkinos. Familie Ackermann ist ein Beispiel.

„Ackermann's Elektro-Biog

hier Kino

im Zelt

Die Ackermanns im Kinozelt: Nicht rauchen!

raph“ war von außen mit verlockenden Bildern bemalt. Das Zelt hatte zwei Eingänge — für die verschiedenen Ränge. Es wurden Filme wie „Das Halsband der Toten“ oder „Abgründe“ gezeigt. Johann Ackermann, der Techniker, bediente den handzukurbelnden „Elektrobiograph“, Schwägerin Hulda saß an der Kasse und Bruder Tammes, mit seinem klassischen Stummfilmgesicht, war der „Tonmann“ für die stummen Filme. Er spielte den „Film-Erklärer“, ohne dessen begleitende Erläuterungen der Inhalt der meisten Spielfilme kaum verständlich gewesen wäre. Im richtigen Spannungsmoment setzte er das Grammophon ein.

Die Existenz der wandernden Zeltkinos, die den Boden für die Ortskinos auch außerhalb der großen Filmmetropolen bereiteten, waren ständig durch allerlei Unglücksfälle gefährdet: Der zweitschlimmste Fall trat ein, wenn ein teuer eingekaufter Film aus dem Mini-Repertoire beim Publikum nicht ankam, der schlimmste, wenn ein Film verboten wurde.

Schon 1911 wurde der Begriff des „Schundfilms“ geprägt, eine vorerst noch willkürlich von der örtlichen Polizei durchgeführte Filmzensur griff schon durch. Wundervoll inszeniertes, feinsinnig arrangiertes, von Anfang bis Ende packendes, herrvorragen

dend dargestelltes LEBENSDRAMA! So sah die Pressewerbung im „Leerer Anzeigenblatt“ vom 2.3.1911 für den Film „Abgründe“ aus. Der konnte die Zensur passieren. Zuschauer-Lock titel wie „Alter Mädchenjäger“, „Trunksucht und Vaterliebe“ oder „Verbotende Frucht“ waren da gefährdeter.

Schließlich wurde 1912 ein generelles Kinoverbot für Jugendliche dekretiert, sehr zum Schaden der Einnahmen, denn Kinder und Jugendliche liebten DEN Kino (wie es in Abkürzung von „Kinematograph“ damals hieß) sehr.

Bis zum 1. Weltkrieg lief das Unternehmen Ackermann, danach hatten Wanderkinos keine Chance mehr. Ihre Geschichte, die auch uns heutige KinogängerInnen geprägt hat, soll nicht verloren gehen. In einer für Interessierte offenen Tagung an der Universität Oldenburg (16.-18. August) wird von laufenden Projekten (regionale Filmbüros, mobiles Kino, u.a.) berichet und über Forschungsergebnisse diskutiert. Und vielleicht auch eine Frage geklärt, die Thomas Mann schon 1928 aufwarf: „Sagen Sie mir doch, warum man im Kino jeden Augenblick weint... „ — oder tun wir das etwa nicht mehr? Cornelia Kurth

Kontakt: J.Thiele/B.Poch, Carl v. Ossietzky-Universität Oldenburg, FB 2, PF 2503, 29 Oldenburg

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