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Unter Zwangsverschluß

■ Von der Mieterdisziplinierung zur Parkplatzsicherung: Kleine Geschichte des Berliner Durchsteckschlüssels

Eines Tages einen Schlüssel mit zwei Bärten zu besitzen bedeutet in der Regel einen nicht unwesentlichen Einschnitt im Leben einer jeden Mieterin. Denn fortan orientieren sich Abendeinladungen mit Freunden nicht mehr an den Bedürfnissen und Lebensgewohnheiten der Beteiligten, sondern an den von der Hausverwaltung festgesetzten Schließzeiten. Insbesondere, wenn die Wohnung in den oberen Stockwerken angesiedelt ist, sorgt die Existenz eines Durchsteckschlüssels in der Regel für das kollektive Ende eines jeden geselligen Zusammenseins, um höflicherweise der Gastgeberin die Extratreppentour zu ersparen. Wer noch nicht aktiv am Zeitalter der Gegensprechanlage teilnehmen darf, inszeniert zwangsläufig allabendlich ein Geiseldrama. Die Geisel ist der Schlüssel selbst, der, kaum, daß er ins Schloß gesteckt und herumgedreht wurde, durch eine Sperre solange daran gehindert wird, das Schloß zu verlassen, bis die Tür von der einen oder anderen Seite aus wieder ordnungsgemäß abgeschlossen worden ist. Wer die Tür unverriegelt läßt, überläßt automatisch die Geisel ihrem Schicksal, riskiert den Verlust des Schlüssels an den erstbesten Passanten. Die Verfügungsgewalt über Tür und Schloß wird so an die Anwesenheitspflicht des Schließenden geknüpft, kann die Tür doch zwar geöffnet, nicht aber nach Belieben offen gelassen werden.

Der Schlüssel mit den zwei Bärten hat somit auch zwei Bedeutungen, symbolisiert gleichermaßen Macht und Ohnmacht. Daß dieses Mittel zur Mieterdisziplinierung 1919 in Berlin erfunden wurde, ist sicherlich kein Zufall. Das Berliner Bürgertum, das im Januar dieses schicksalsträchtigen Jahres den Spartakus-Aufstand blutig niederschlagen ließ und selbst die Zusammenarbeit mit Noskes Mordgesellen nicht scheute, hatte ein überaus großes Interesse daran, die Arbeiterschaft der Reichshauptstadt in Schach zu halten. Die Erfindung des Schlossermeisters Johannes Sweiger, die die bereits vorhandene Kontrolle durch den Hauswart auf effektive Weise komplettierte, kam ihren Bedürfnissen nur entgegen. Denn sie gewährte nicht nur den Schutz der Miethausbewohner vor unerwünschten Eindringlingen, sondern ließ sich auch als wirkungsvolles Mittel gegen allerlei Heimlichkeiten der Hausbewohner einsetzen. Ein konspiratives Treffen etwa verliert schnell seinen geheimen Charakter, wenn alle Teilnehmer, oder gar komplette Grüppchen, vom Gastgeber unten an der Tür persönlich in Empfang genommen werden müssen. Die Verbreitung von wichtigen aktuellen Botschaften oder die spontane Mobilisierung der proletarischen Hinterhausbewohner ließ sich ebenfalls durch ein verschlossenes Tor wirksam erschweren.

Zum Glück hat die Verbreitung des Telefons, zumindest im Westteil der Stadt, dem Schlüssel einiges von seiner restriktiven Wirkung genommen. Zudem ist diese Erfindung, die außerhalb Berlins nirgendwo Anklang gefunden hat, auch in dieser Stadt auf dem Rückmarsch. Das Durchsteckschloß wird immer mehr von modernen Schließsystemen aus den Mietshäusern verdrängt und wird — vorausgesetzt, Bonn fordert nicht eines Tages den Zwangsverschluß für alle Berliner Bürger — wahrscheinlich in absehbarer Zukunft nur noch Privatparkplätze sichern. Wer bis dahin noch mit einem Durchsteckschlüssel geschlagen ist, kann natürlich auch zur Selbsthilfe greifen und sich ein eigenes »Hauswartsmodell« basteln. Es hat an einem Ende statt eines Bartes nur ein dünnes, glattes Blech, das sich mühelos an der Sperre vorbeiziehen läßt.

Der Schlüssel mit dem Schließzwang erschwert jegliche Spontaneität. Freunde, die hin und wieder unangemeldet abends vorbeischauen, lernen in kurzer Zeit alle Telefonzellen der Umgebung kennen oder entwickeln schnell — vorausgesetzt, die Wohnung befindet sich im Vorderhaus — erstaunliche Fähigkeiten im Steinchenhochwurf oder Auf-den- Fingern-Pfeifen. Wer unter chronischem Groschenmangel leidet, beim Steinchensuchen bereits zum dritten Mal in Hundescheiße gefaßt hat und mit Mund und Fingern bloß klägliche Zischlaute hervorzubringen vermag, gibt möglicherweise auch ganz auf — und somit den Freunden den Vorzug, die »Sesam öffne dich« auf Knopfdruck spielen können.

Wahrscheinlich liegt im Durchsteckschlüssel die Erklärung dafür, daß in Berlin, anders als in anderen deutschen Städten, spontane Besuche nicht zum üblichen Verhaltensrepertoire der Bewohner gehören. Die Fähigkeit, aus dem Zwang von »oben« eine konsensfähige Verhaltensnorm mit Tugendcharakter zu machen, ist schließlich in diesem Land nicht eben wenig verbreitet. Der Sozialisationseffekt des Berliner Schlüssels wird — das ist abzusehen — dessen Verschwinden überdauern. Sonja Schock

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