Fast 30 Jahre wird ermittelt

■ Im längsten NS-Verfahren ist immer noch kein Ende in Sicht

Die SS-Männer trieben ihre Gefangenen aus dem Auschwitz-Außenlager Janina-Grube nach Westen in Richtung Gleiwitz im heutigen Polen. Sie waren auf der Flucht vor der heranrückenden Roten Armee. Hohe Schneewehen erschwerten das Vorwärtskommen. Die rund 750 ausgemergelten KZ-Häftlinge konnten kaum oder gar nicht Schritt halten. Viele, die vor Erschöpfung nicht weiterkonnten, wurden erschossen. Rund 20 Tage war der Elendszug in der zweiten Januarhälfte des Jahres 1945 unterwegs, bis er das KZ Großrosen bei Breslau erreichte.

Während des Evakuierungsmarsches soll SS-Rottenführer Heinrich Niemeier zehn Menschen getötet haben, weil sie das Tempo nicht durchhalten konnten. Was an den Vorwürfen richtig oder falsch ist, haben die Gerichte in bislang über 376 Verhandlungstagen nicht klären können. Der Fall Niemeier ist damit das längste Verfahren wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, und ein Ende ist immer noch nicht abzusehen.

Bereits 1945 sagte ein ehemaliger KZ-Häftling ausführlich über Niemeier aus. Offiziell beschuldigt wurde er von der Justiz der Bundesrepublik 1963. Das Ermittlungsverfahren wurde 1973 an die Staatsanwaltschaft Hannover überwiesen. Vier Jahre dauerte es, bis Anklage erhoben wurde. 1979 wurde Niemeier zu sechs Jahren Haft verurteilt. Der Bundesgerichtshof kassierte den Spruch, weil die in der Urteilsbegründung angeführten „niedrigen Beweggründe“ nicht hinreichend belegt waren. Nur „niedrige Beweggründe“ definieren Erschießungen als Mord. Ohne diese wären die Taten als Totschlag zu werten und deshalb verjährt gewesen. Die zweite Prozeßrunde begann 1981.

1991 kippte dann der ganze Prozeß. Wegen eines Formfehlers — die Schöffen waren nicht ordnungsgemäß berufen worden — wurde das Verfahren ohne Urteil ausgesetzt. Als Folge muß die Hauptverhandlung neu begonnen werden. Im Vorfeld der anstehenden Neuauflage des Prozesses wollte die Kammer im Herbst 1991 wegen angeblicher Verhandlungsunfähigkeit Niemeiers das Verfahren einstellen. Die Staatsanwaltschaft legte dagegen Beschwerde ein und bekam vom Oberlandesgericht Celle Recht.

Inzwischen ist die Kammer zum Teil mit Richtern besetzt, die mit dem Fall Niemeier noch nicht befaßt waren. Sie müssen sich erst durch mehrere Umzugkartons voller Akten arbeiten, bevor wieder verhandelt werden kann. Damit wird frühestens 1993 gerechnet.

dpa