PREDIGTKRITIK: Weckt mich bitte
■ Katholische Messe in der St.Kamillus-Kirche
Viele Leute haben den Weg ins Gotteshaus am Klausener Platz bei dieser Hitze nicht gefunden. Ich sehe vor allem die alten Damen, mit denen unabhängig von Sonne oder Schnee immer gerechnet werden muß. Nur zwei Familien mit Kindern sind da. Die Kinder sind quirlig und kichern öfter mal vor sich hin. Nachdem ich auch gelacht habe, tauschen wir mehrere Male Verschwörerblicke miteinander, darauf bedacht, von den Eltern nicht erwischt zu werden.
Der Predigt vorangestellt ist heute ein Gleichnis aus dem Lukas- Evangelium. Im 12.Kapitel spricht Jesus den Jüngern von dem Knecht, der das Haus so bewachen soll, daß er die Rückkehr seines Herrn jederzeit guten Gewissens erwarten kann. »Selig« seien die Knechte, »die der Herr, so er kommt, wachend vorfindet«, heißt es da. Er wird sich zu Tisch setzen und vor ihnen dienern; Nur der, der seines Herren Willen weiß und trotzdem nichts getan hat, der wird viel leiden müssen. Denn welchem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und welchem viel befohlen ist, von dem wird man viel fordern.
Ganz klar: Wach sollen wir sein und uns jederzeit bereithalten. Uns die Frage stellen, ob wir Möglichkeiten und Talente richtig nutzen, ob wir uns so verhalten, daß wir vor Gott bestehen können. Ich erwarte, daß jetzt die üblichen Ermahnungen und Warnungen auf uns einströmen. Aber nein, der junge Priester erzählt eine Geschichte aus dem Leben Wilhelm Voigts, der unter dem Namen des Hauptmanns von Köpenick berühmt geworden ist. Der habe im Gespräch mit seinem Schwager die Furcht geäußert, eines Tages vor Gott zu stehen und die Frage nach einem sinnerfüllten Leben nicht ausreichend beantworten zu können. »Ich habe nur Fußmatten im Gefängnis geflochten«, müßte er sagen, und Gott würde antworten: »Dafür habe ich Dir Dein Leben nicht gegeben.« Mir kommt der Gedanke, ob der grinsende blonde Junge da drüben die herrliche Geschichte vom Köpenicker Rathauskassendieb überhaupt kennt — und wenn nicht, wie man sie ihm erzählen wird. Denn ich finde, Wilhelm Voigt mußte nach seinem Streich zwar eine Weile Fußmatten im Knast flechten, aber er ist dafür auch so berühmt geworden wie keiner aus seiner Schusterszunft.
Und ehrlich gesagt, kann ich mir gut vorstellen, daß auch Gott über diesen Coup, wenn nicht offen gelacht, so doch bestimmt im Stillen geschmunzelt hat. Der Pfarrer, und das ist sehr angenehm, enthält sich denn auch jeder Wertung. Vermutlich hat auch er Humor. Das, was er uns an Empfehlungen mit auf den Weg gibt, ist erstens vernünftig und zweitens in einer der Hitze entsprechenden Kurzfassung gehalten. Denn gegen Verantwortung für sich und andere, die wir alle tragen, ob gewollt oder nicht, ist ja nun wirklich nichts zu sagen. Wir werden entlassen mit dem Satz, »daß wir die Sonntagsmesse feiern, um nicht einzuschlafen, sie sei wie ein Schild, auf dem steht: Weckt mich bitte.« Ich finde den Vergleich komisch, aber solange auf der Rückseite des Schildes, die man an den Wochentagen vor sich hat, nicht »Gute Nacht« steht, ist ja alles in Ordnung.
Sibylle Burkert
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