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Die »Sehnsucht nach Ruhe« überwiegt

■ Die 72 neu angekommenen bosnischen Flüchtlinge wollen vorerst lieber im Heim in Weißensee bleiben/ Dennoch werden Patenschaften gesucht

Weißensee. »Die Leute waren nach der 28stündigen Zugfahrt so erschöpft, daß einige bereits vor dem Essen eingeschlafen sind«, sagte der Weißenseer Heimleiter Dietrich Sievert gestern über den Zustand der 72 bosnischen Flüchtlinge, die am Sonntag mit einem Zug aus Zagreb in Berlin eingetroffen sind. Lediglich eine Frau und ihre zwei Kinder mußten nach den Strapazen in ein Krankenhaus gebracht werden, allen anderen sei es den Umständen entsprechend gutgegangen. Die »Sehnsucht nach Ruhe« überwiege jetzt bei den meisten Vertriebenen.

Bei den Geflüchteten handelt es sich vorwiegend um Frauen und Kinder, so der Heimleiter weiter. In dem Heim an der Weißenseer Rennbahnstraße werden seit dem 27. Juli bereits 146 Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina versorgt. Fast alle hätten am Sonntag darauf gehofft, daß Verwandte mit zu den Neuankömmlingen gehören. Soweit er das bis jetzt sagen könne, sei das aber nicht der Fall.

»Ganz Kroatien ist voller Flüchtlinge«, sagte ein Vertriebener einem der sechs Dolmetscher, die in dem Heim arbeiten. Kaum einer der neuen Heimbewohner spricht Deutsch oder Englisch. Viel Glück habe er gehabt, denn erst am Donnerstag habe er für sich und seine Frau einen Antrag im »Büro für Flüchtlinge« der kroatischen Regierung abgegeben, bereits am Freitag saßen sie im Zug. Ob es auch möglich gewesen sei, sich auf die Flüchtlingslisten einzukaufen, wozu es nach ARD-Informationen bei der Zusammenstellung der Transporte in Karlovac gekommen sein soll, wisse er nicht. Auch dem Heimleiter Dietrich Sievert ist bisher über solche Vorfälle nichts bekannt.

Ihm geht es um die Probleme, die hier entstehen. Auch wenn bisher noch keiner der 146 Bosnier den Weg in eine Privatunterkunft gesucht habe, weil die Sprache ihnen »ein letztes Gefühl von Heimat« gebe, so soll doch mit dem Versuch, Patenfamilien zu finden, die Isolation des Heims überbrückt werden. Bereits acht Berliner Familien hätten sich dazu bereit erklärt, seien mit den Bosniern erstmals gemeinsam zum Baden gegangen oder hätten das Wochenende mit ihnen verbracht.

»Alle wollen so schnell wie möglich nach Hause«, erklärt Dietrich Sievert. Aber das hänge ja vom Kriegsverlauf ab. Deswegen suche man Lehramtsstudenten, die die Sprache beherrschen und den Erwachsenen Deutschunterricht geben könnten. »Für die Freizeitgestaltung fehlt es noch an Literatur in der Landessprache«, erklärte Dietrich Sievert. »Didaktisches Spielzeug«, durch das die Kinder sprechen und schreiben lernen sollen, benötige man ebenso. Für ungefähr 70 schulpflichtige Kinder solle der Unterricht voraussichtlich am 24. August beginnen, erklärte der Bezirksbürgermeister Gerd Schilling (SPD). Die Kosten für die notwendige Renovierung von zwei Schulräumen übernehme das Bezirksamt. Ralf Knüfer

Wer spenden will, wende sich an sein Bezirksamt oder an das Heim in Weißensee: Tel. 6096162. Dort kann sich täglich zwischen 16 und 19 Uhr auch melden, wer eine Patenschaft übernehmen will.

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