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„Gut riechen heißt stinken“

Annick Le Guérers Kulturgeschichte des Geruchssinns  ■ Von Martin Halter

Die Nase führt unter den Sinnen ein Stiefmütterchendasein. Schon Platon und Aristoteles hielten dem Geruchssinn, an dessen Objektivierung selbst unsere Computerspezialisten verzweifeln, Mangel an Feinheit und Sprachlosigkeit vor. Kant nannte ihn den „entbehrlichsten“ Sinn, unsozial und aufdringlich, zuweilen wohl auch wollüstig und ekelhaft. Hegel plazierte die Nase immerhin schon zwischen Stirn und Mund, also irgendwo Geist und sinnlichem Genuß. Heute klagen Parfümhersteller und Weintester über eine katastrophale Verkümmerung des Geruchs („Anosmie“); eine Degenerationserscheinung, die in unserer Kultur der Desodorisierung um so fataler wirkt. So trauern die „Odorophilen“ melancholisch jenen goldenen Zeiten nach, als sich die Menschen nach Alter, Geschlecht, Beruf und Stand noch durch die Nase identifizieren ließen, als die Welt in Balsam, Weihrauch oder auch Unrat schwamm und sich niemand seines Mundgeruchs schämte. Heute werden Duftwässerchen und Geruchsmasken nicht nur in der Körperflege, sondern auch beim Hausputz und sogar als Verkaufshilfe eingesetzt. Die Inflation der Wohlgerüche wie die Uniformierung der sensorischen Sensationen überdecken nur die schlechten Odeurs der Gegenwart, und das „olfaktorische Schweigen“ der Deodorant-Gesellschaft ist noch anrüchiger. Montaigne wußte noch: „Gut riechen heißt stinken.“

Worüber man heute die Nase rümpft, ist ein stammesgeschichtlich tief verwurzelter Instinkt. Die diskriminierte und dämonisierte Nase war für Mensch und Tier von altersher Wächter und Warner im Kampf ums Überleben — bis ins Zeitalter industrieller Luftverpestung. Sie ist die Vorhut des Geschmacks — was nicht gut riecht, ist schwerlich eßbar — und eine Art sekundäres Geschlechtsorgan. Sexuallockstoffe — auch beim Menschen wurden „Pheromone“ isoliert — markieren brünstige Artgenossen und Rivalen, Duftmarken grenzen die Reviere ab. Üble Gerüche, Miasmen und Gestank sind umgekehrt Vorzeichen von Krankheit und Verwesung, Gift und bösen Geistern. Volksglaube und Medizin haben auf diesem Zusammenhang ganze Systeme olfaktorischen (Aber)Glaubens gebaut. Von Hippokrates bis weit in die Neuzeit hinein etwa galt die „faule Luft“ als Pesterreger; die Krankheit wurde mit aromatischen Räucherungen oder auch noch schärferen Gerüchen — Schwefel, Aas, Bockspisse — bekämpft. So ist das Spiel mit Gerüchen und Parfums atavistisch primitiv und zugleich Ausweis höchster Kultiviertheit.

Annick Le Guérer ist als französische Kulturphilosophin und langjährige Angestellte des Parfümhauses Dior für eine Kulturgeschichte der Nase gleichsam prädestiniert. Während ihr Landsmann Alain Corbin in „Pesthauch und Blütenduft“ die im 18. Jahrhundert jäh zunehmende Empfindlichkeit des Geruchssinns beschrieb, nähert sie sich dem Thema in diachronen Schnitten. Einleitend geht es um die anthropologischen Mechanismen von Anziehung und Abstoßung durch den Geruch von den steinzeitlichen Jägern bis zu den späten Sumpfblüten der Geruchssoziologie. So leiteten französische Mediziner im Ersten Weltkrieg aus den Schweißfüßen der Deutschen, aus der olfaktorischen Qualität und Quantität ihres Kots eine Minderwertigkeit des teutonischen Feindes ab: „Der Deutsche uriniert durch die Füße.“ Der Geruch ist der sozialste aller Sinne und zugleich — man muß nicht nur an „Kümmeltürken“ und „Knoblauchfresser“ denken — der antisozialste und intoleranteste. Nicht umsonst bläst man sich bei den Arabern zur Begrüßung den Atem ins Gesicht oder reibt sich bei den Eskimos die Nase; Redensarten wie „jemanden riechen können“ oder „die Nase voll haben“ haben einen anthropologischen Ursinn. In einem zweiten Teil schildert Annick Le Guérer Ätiologie und Aromatherapie der Pest; im dritten Abschnitt steckt die Dior- Schnüfflerin ihre feine Nase in den „Geruch der Heiligkeit“, jenes Gemisch aus Blut und Weihrauch, das Magie und christliche Religionen gemein haben.

Im letzten Abschnitt kommt dann die eigentliche „Philosophie der Nase“ zu ihrem Recht. So übel dem Riechkolben in der Philosophiegeschichte mitgespielt wurde: es gibt auch Ausnahmen. Montaigne war einer der ersten, der den Paria unter den Sinnen als Werkzeug des Erkennens und Genießens achtete, bevor die Sensualisten und Materialisten der Aufklärung ihn dann rehabilitierten; Rousseau rückte den Geruch schon in die Nähe der Einbildungskraft und des guten Geschmacks. Feuerbach hob die Hierarchie der Sinne auf und befreite den Geruch aus seinem animalischen Exil. Nietzsche („Mein Genie ist in meinen Nüstern“) philosophierte vollends als ein Spürhund, der die Fäulnis und die Lügen der Moral schon von weitem wittert. Immer wieder hält er sich die metaphorische Nase zu: Der Geruchssinn ist ihm der sechste Sinn, das Organ intuitiver Erkenntnis. Das deckte sich mit der alten, von Fourier bis Bachelard immer wieder bestätigten Anschauung, wonach im Geruch das unverstellte Wesen der Dinge selbst zum Ausdruck komme: Die Alchemisten fanden im spiritus rector den Stein der Weisen, Proust im Geruch einer Madeleine die Kindheit zurück, und Patrick Süskinds Grenouillle destilliert aus dem Parfum ermordeter Jungfrauen sein Lebenselixier.

Wo Nietzsche die Diskriminierung des Geruchssinns durch die abendländische Kultur bekagt, billigt Freud die Triebsublimierung als Voraussetzung von Kultur. Als der Mensch den aufrechten Gang erlernte, hat er — um den Preis von Neurosen — den animalischen Nahsinn verdrängen müssen. Vielleicht mußte der homo sapiens die Nase also so hoch tragen, um auf seine infantilen „koprophilen Interessen“ Verzicht leisten, will sagen: aus der Scheiße herausfinden zu können, in der er steckt. Der Geruchssinn, das zeigt Annick Le Guérer mit wissenschaftlichem Spürsinn und neugieriger Schnüffelei, ist das tierische Erbteil in uns und zugleich der menschlichste Sinn.

Annick Le Guérer: „Die Macht der Gerüche. Eine Philosophie der Nase“. Aus dem Französischen von Wolfgang Krege. Klett-Cotta, 295 Seiten, 44DM.

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