: Staunend pro Minute
■ Petra Darimonts fragile Märchenkleidung in der Galerie Tinatin
Zuerst meint man, sich in ein reichlich modisches Bekleidungsgeschäft verirrt zu haben. Gleich neben dem Eingang steht eine Schneiderpuppe mit darübergelegtem bodenlangem Cape. Rechts davon hängen drei eng taillierte Jacken, auf runden durchsichtigen Podesten werden grazile Schuhkreationen ins rechte Licht gerückt. Dann fällt der Blick auf einen Störfaktor. Manchen wird sie noch von der diesjährigen FBK in Erinnerung geblieben sein: Die Installtion »Soft Cell« von Petra Darimont. Eine komplette Waschecke — Spiegel, Becken, Zahnbürste, Rasierer, Föhn — das Ganze mit verfilzter Wolle überzogen, als hätten viele Jahrtausende ihre Spinnweben hier hinterlassen. Von Darimont, künstlerisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HdK und seit Juni 92 eine ihrer Vizepräsidentinnen, stammen auch die übrigen Arbeiten im Raum, die, wie sich bald herausstellt, natürlich nicht für den Kleiderschrank bestimmt sind. Die »Schuhe« entpuppen sich beim näheren Hinsehen als besonders delikat. Ihr Grundmaterial ist ein hauchdünnes, transparentes Gewebe aus Naturseide, formbar und trotzdem federleicht. Für das ballerinaähnliche Modell »Daphne« wurden gar getrocknete Blattgeruppe verwendet, so daß man fast befürchten muß, das Werk schon durch bloßes Betrachten zu beschädigen. Es ist ein Märchenland, in das Darimont ihre Besucher entführt. Lösegeld berechnet sie in staunend aufgerissenen Augen pro Minute. Und sie macht es einem leicht, sich wieder zu befreien. Noch eine Zeitlang irrt man fasziniert herum, aber nach einer Weile hat der Zauber seine Wirkung verloren.
Zwar mögen einige Stücke berühmte Vorbilder zitieren, etwa Claes Oldenburgs schlaffe Pop-Art- Plastiken, oder Meret Oppenheimers Geniestreich »Déjuneur en fourreure«, eine mit Fell beklebte Kaffeetasse, die eine Ikone der surrealistischen Bewegung war. Dennoch zeigen gerade solche Vergleiche, daß zwischen Urbild und Zitat, qualitativ gesehen, Welten liegen. Daß Darimont zu der Generation gehört, die aus jeder Doppeldeutigkeit sofort Ambivalenz machen muß, mag man ihr noch nachsehen. Wenn sie ihren Illusionistischen Kabinettstückchen jedoch das Spannungsfeld »Transparenz und Undurchdringlichkeit, Repräsentation und Abstraktion« andichtet, dann übersteigt dieser Anspruch die poetische Kraft, die zweifellos von den Objekten ausgeht. Kein epochales Ereignis, aber ein Ausflugsspaß für die ganze Familie. Ulrich Clewing
Bis 20. August. Galerie Tinatin, Tiroler Straße 68, Pankow. Täglich von 16 bis 20 Uhr
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