: Ein Jahr älter und kein bißchen weiser
Seit dem Sieg über die August-Putschisten ist die russische Gesellschaft vielfältiger und selbstbewußter geworden. Nun sieht sie ihre eigenen Probleme zwar in einem schärferen Licht — aber damit wachsen auch die Ängste ■ VON BARBARA KERNECK
Sollten einige der jungen Männer, die vor einem Jahr das Weiße Haus an der Moskwa gegen den antidemokratischen Putsch des „Staatskomitees für den Ausnahmezustand“ verteidigt haben, heute während des Wehrdienstes Repressalien erleiden müssen, so können sie sicher sein: in den Räumlichkeiten des einst von ihnen geschützten Gebäudes wird niemand einen Finger für sie krümmen. Kürzlich eröffnete man mir in einem der höchsten Kabinette der neuen russischen Staatlichkeit, ich wisse nicht, wie lächerlich ich mich von außen betrachtet ausnehme. Die vielleicht nicht galante, auf jeden Fall undiplomatische Eröffnung machte mir ein Herr Tschernobrowkin, Helfer des Generalobersten Dmitri Wolkogonow, Jelzins oberster Berater in Militärangelegenheiten. An diese Instanz hatte ich mich um Hilfe gewandt, weil der Sohn von Bekannten nach Mißhandlungen, einer chirurgischen Operation und gelegentlichen Kastrations- und Vergewaltigungsdrohungen aus der ruhmreichen Sowjetarmee desertierte. Der Junge ist nun zum Leidwesen seiner Familie auf eine lautstarke Weise nicht ganz richtig im Kopf und kann keiner produktiven Arbeit nachgehen, weil man ihm die Entlassungspapiere nicht aushändigt.
Der Helfer des Ratgebers wies mich lediglich zurecht: wer derartige Mißlichkeiten nicht durchzustehen vermöge, sei „kein richtiger Mann, nicht wert zu heiraten“ und eine nicht hilfswürdige „Rotznase“. Er, Tschernobrowkin persönlich, sei außerdem seinerzeit immer bereit gewesen, den Musterungsbehörden einen Kasten Cognac zu spendieren, wenn er dadurch die Aufnahme eines gebürtigen Moskauers in seine Kompanie habe vermeiden können.
Nach Angaben des „Komitees für Belange der Militärdienstleistenden und ihrer Familien“ beim russischen Präsidenten sind im Jahre 1991 in der Armee ungefähr 5.000 Menschen umgekommen — die meisten nicht in Kampfhandlungen. Ungefähr 99.000 Mann erlitten Verletzungen, manche erlagen diesen später. Das Komitee wurde im Mai aufgelöst, nachdem es einige den Militärs unliebsame Reformvorschläge ausgearbeitet hatte.
Eine besondere Aktion haben sich für den kommenden 19. August, den ersten von drei aufeinanderfolgenden Jahrestagen des Putsches, die „Soldatenmütter Rußlands“ ausgedacht — Frauen, deren Söhne in Friedenszeiten durch Kasernenterror ums Leben gekommen sind. Unter der Losung „Das freie Rußland in Zinksärgen“ beabsichtigen sie an diesem Tag, an dem das über tausendjährige Rußland unabhängig geworden sein will, erneut mit den Fotos der entstellten Leichname ihrer Söhne zu demonstrieren. Sie kämpfen für die gerichtliche Verfolgung der Täter und um den Schutz der noch lebenden jungen Rekruten, die heute dienen.
Ihr Recht gewährte ihnen bisher niemand, und — ebenso wie die Mehrheit der Russen — sie haben noch nicht gelernt, es sich zu ertrotzen. Die Justiz ist noch die alte, auch wenn kühne Advokaten die neuen Rechte zunehmend zu nutzen wissen. Die immer noch nicht recht aufgeteilte GUS-Armee ist — mehr noch als vor einem Jahr — ein Staat im Staate; keinerlei demokratische Kontrollmechanismen haben die alte Parteidisziplin ersetzt. Die alten Sicherheitsdienste, mit neuen Etiketten versehen, schaffen es noch immer, aufmüpfige BürgerInnen mit der „Prokuratura“ — Staatsanwaltschaft — und den Straflagern zu schrecken. Ein Jahr der proklamierten Demokratie in Rußland konnte diese Phalanx nicht durchbrechen, und für die Soldatenmütter hat sich nichts geändert.
Immer bunter
Stellenweise bis zur Unkenntlichkeit haben sich die Straßen und Auslagen der russischen Metropole seit dem August vorigen Jahres bunt gefärbt. Vor einem Jahr gab es hier — nach fast anderthalbjähriger Pause — wieder die ersten schüchternen Kochtöpfe, verstohlenen Matratzen und dünnen Handtücher zu kaufen. Jetzt zeigen die Geschäfte, was russisches Handwerk und Industrie zu erzeugen vermögen — schicke Möbel im postmodernen Wellenstil, bestes russisches Leinen für Geschirrtücher und Geschirr über Geschirr.
Ja sogar klobige Kühlschränke, Nähmaschinen und Bügeleisen, die seit fast vier Jahren im Handel nicht mehr zu orten waren, tauchen allenthalben auf. Die Masse macht's — denn schon vor einem Jahr konnte ich im Zentrum Moskaus hin und wieder Kosmetika oder ein Kopfkissen kaufen. Jetzt aber hat man die ältesten Gassen der Innenstadt freiräumen müssen, hoffnungslos verstopft von chinesischen Händlern, die elegante Seidenkleidung von Schneidern himmlischer Hosen feilboten, von Geldwechslern und von Großmüttern, die je eine Dose Instant-Kaffee oder ein Paar Gummistiefel verscherbeln wollten. Und an allen Ecken und Enden werden jetzt — ein Traum früher in der trockenen Perestroika-Periode — Wodka, Bier und Wein gleich kistenweise verhökert.
Dem nicht mehr schwarzen Markt der privaten Kleininitiativen wurde kürzlich ein Riesenterrain am Stadtrand zugewiesen. Während letztes Jahr die Bauern gebietsweise für die Ernte keine Rubel annehmen wollten, weil sie dieser Währung allzusehr mißtrauten, können sie heute von den gleichnamigen Scheinchen nicht genug bekommen. Und dies ist vielleicht der größte Erfolg des Premierministers Gaidar: Für den Rubel gibt es seit der Freigabe der meisten Preise wieder etwas zu kaufen, und die Basare der Händler haben sich als wirksames soziales Ventil stabilisiert.
Damit ist die Aufzählung der Positiva auch schon beendet. Denn keineswegs stabilisiert wurde der ins Endlose fallenden Rubelkurs. Die kleine Frau und ihr kleiner Mann in Rußland leben wirtschaftlich in einer Quasi-Nachkriegszeit, wie die Deutschen vor der Währungsreform. Ob ein Wirtschaftswunder kommen wird, das weiß sie allerdings noch nicht, und sinnierend sieht ihr Gatte zu, wie der heiße Augustwind die Fetzen eines der sündhaft teuren Pornohefte vor sich hinbläst, mit denen in den U-Bahn-Schächten gehandelt wird.
Die neue Ärmlichkeit bedeutet eben für die meisten MoskauerInnen, daß sie sich das Bügeleisen im Schaufenster auch dann nicht unbedingt kaufen können, wenn das alte kaputtgegangen ist, und daß sie dieses Jahr nicht ans Meer fahren, um sich ein wenig zu erholen. Für viele liegt nicht einmal eine Creme zur Glättung der angespannten Gesichtsfalten im Bereich des Erschwinglichen. Die meisten städtischen Familien geben ihr Geld ausschließlich für Lebensmittel aus. Durchhalteappelle, besonders wenn sie des öfteren wiederholt werden, wirken auf kein beliebiges Volk besonders inspirierend. Und Jelzins Durchhalteappelle der letzten beiden Monate erinnern — ebenso wie seine im Leeren verhallenden Dekrete — fatal an die Gorbatschow-Ära.
Aber die MoskauerInnen sind nicht mehr dieselben. Vielleicht zum ersten Mal seit Jahrhunderten warten sie nicht mehr auf die Gaben eines guten Zaren. Dies bewies die wilde Landnahme um die Moskauer Ringautobahn im letzten Frühjahr, als die Leute dort plötzlich munter pflanzten und säten, ohne entsprechende Gesetze abzuwarten. Und kräftiger noch als die dortigen bleihaltigen Schößlinge sprießen an allen Ecken und Enden die Privatschulen aus der Erde. Vom Dolmetscher über die EDV-Buchhalterin bis zum Bodyguard bilden sie alles aus, woran es der Gesellschaft für den großen Sprung nach vorn noch zu mangeln scheint. Endlich verwirklichen die Russen, von der Oma bis zum Kleinkind, einen Ratschlag Lenins emsig und aktiv: Lernen, lernen, lernen!
Russen aus Patriotismus
Diejenigen, die es am wenigsten verkraften können, nicht mehr von der Wiege bis zur Bahre versorgt und in allen Lebensfragen angeleitet zu werden, bilden das Fußvolk des neuen Konservatismus. Die neue Rechte hat im Laufe des verflossenen Jahres in der russischen Gesellschaft deutliche Konturen angenommen. Eine Partei mit dem anmaßenden Namen „Russisches Nationales Konzil“, geführt von dem Ex-KGB-General Alexander Sterligow, ist bisher die größte Organisation, die die Erniedrigten, Beleidigten und Desorientierten unter vaterländischen Losungen vereint. Zur spektakulären Gründungsversammlung im Juni erschienen nicht nur wie erwartet die Schriftsteller Valentin Rasputin und Viktor Astafjew, sondern zum Beispiel auch der Filmregisseur Alexander Goworuchin.
Das „Russische Nationale Konzil“ geht von einer besonderen Mission der Russen in der Welt aus, wobei sich Rußland für seine Mitglieder mit der ehemaligen UdSSR deckt. Denn das eigentlich russische Element im Russen sei übernational und bestehe — so ihr Zirkelschluß — in der Natur seines besonderen russischen Patriotismus. Diesen Patriotismus demonstrierten im gleichen Monat die Hunderte angeblich streikenden Rentner und Pensionäre mit ihren Zelten vor dem Fernsehturm von Ostankino und bunten antisemitischen und ausländerfeindlichen Parolen an den Bäumen.
Die vielen hier versammelten Rentner, Arbeitslosen und kleinen Spekulanten fühlen sich vom Westen überrannt und in die Tasche gesteckt. „Wir wissen ja gar nicht, was das ist, diese Demokratie und diese Marktwirtschaft“, sagte mir dort eine adrette Frau mittleren Alters: „Wir haben das ja noch nicht gehabt! Jetzt ist unsere Nation schwer krank. Und jedes kranke Tier besitzt genug Instinkt, um sich erst einmal von den anderen zurückzuziehen und sich ganz mit der eigenen Heilung zu beschäftigen.“ Ihr schwarzbehemdeter Nachbar beantwortete mir meine Frage nach seinen Motiven mit einem kräftigen Stoß in die Rippen. Auch wenn die Nationalpatrioten Umfragen zufolge vorerst nur bei etwa zehn Prozent der russischen Bevölkerung auf Sympathien stoßen — der Aagressivitätspegel in der Gesellschaft wird von der Zukunftsangst kräftig in die Höhe getrieben. Wenn, wie zu erwarten, im bevorstehenden Herbst die Kolchosen-Barone ihren Daumen auf das Getreide halten und die Arbeitslosigkeit Massencharakter annimmt, steht ein weiterer Ruck nach rechts bevor.
Gefährlich erscheint angesichts dessen das Bestreben des russischen Präsidenten Boris Jelzin und vor allem des Vizepräsidenten Alexander Rutskoi, den „patriotischen“ Strömungen rhetorischen Tribut zu zollen. Das Drohgehabe gegenüber der Ukraine im Herbst vorigen Jahres haben die russischen Politiker glücklich wieder korrigiert. Ihre offensichtlichen Erfolge in der näheren und ferneren Außenpolitik haben ihnen dabei den Weg geglättet. Der Westen ist dem immerhin vom Volke gewählten Jelzin finanziell weiter entgegengekommen als jemals seinem Jubelliebling Gorbi.
Und wenn sie es auch nicht leisten können, in der eigenen Armee Ordnung zu schaffen, so klappt doch im Ansatz die Zähmung der bewaffneten Horden in den Nachbarländern. In Ossetien hat eine multinationale, aber russisch dominierte Friedenstruppe dem zweijährigen Gemetzel an der Zivilbevölkerung ein Ende gesetzt; in Moldawien zeichnet sich eine ähnliche Lösung ab. In den nichtrussischen Völkern zugestandenen elf „Autonomen Republiken“ und zahlreichen „Autonomen Gebieten“ und Kreisen der russischen Föderation sind die russischstämmigen Bürger ein wenig ins Hintertreffen geraten. Der Anteil der Titularnationen in der politischen Führung übertrifft heute in den meisten von ihnen deren prozentualen Anteil an der Bevölkerung. Zugleich streben Angehörige von Völkern wie Jakuten, Komi oder Wolgatataren auch nach Verbesserung ihres wirtschaftlichen und sozialen Status im Vergleich zu ihren russischen Nachbarn.
Es gibt allerdings Faktoren, die die Konfliktbereitschaft in den entsprechenden Teilen Rußlands vorerst dämpfen. So sind nationale Ansprüche dort nicht — wie seinerzeit in den baltischen Volksfronten — mit dem Anspruch auf Emanzipation des Individuums in der politischen Bewegung gekoppelt. Die Herolde der kleinen Nationen entstammen hier zumeist den Sippen der alten kommunistischen Kader und verkörpern nicht den Kampf für mehr Demokratie. Noch nie hatten Staaten so viele Probleme gleichzeitig zu lösen wie die UdSSR-Nachfolger: nicht nur ein verendetes Imperium zu verdauen, sondern auch gleichzeitig in eine neue Wirtschaftsform überzuwechseln. Daß es weder mit den Nachbarn noch im Inneren der Russischen Föderation im vergangenen Jahr zu blutigen Konflikten kam, ist der größte Verdienst der bienenfleißigen Hinterzimmerpolitik der Regierung Jelzin.
Die neue Kamarilla
Juri Skokow hatte früher sein Kabinett im Weißen Haus direkt gegenüber von Staatssekretär Gennadi Burbulis, zumindest bis vor kurzem Jelzins nächster Ratgeber. Jetzt sind beide in den Kreml umgezogen. Skokow, so berichtete kürzlich die Neue Zeit, habe manchmal geradezu vor Ekel die Mundwinkel verzogen, wenn er die stets offene Tür seines Gegegenübers erblickte, wo Vertreter der Bewegung „Demokratisches Rußland“ und Emissäre aus allen Teilen des Landes ungehindert aus- und einschwirrten. Auch wenn es sich dabei um ein Gerücht handeln sollte: Skokow, ein ehemaliger Rüstungsbaron, gehört zu einer ganzen Gruppe von Favoriten des Präsidenten, die dem Stil einer neuen Genierlichkeit frönen und sich vor der Öffentlichkeit lieber bedeckthalten.
Ihr politischer Standort ist die sogenannte „Bürger-Union“, der im Parlament die Fraktion „Vaterland“ entspricht. Deren Führer ist der ebenso tüchtige wie kluge und unter allen Umständen anpassungsfähige Arkadi Wolski, einst Magnat der roten Automobilindustrie und später Sonderbeauftragter des Kreml in Berg-Karabach. Er hat Direktoren staatlicher Konzerne um sich geschart, die gern auf ideologischen Ballast verzichten und sich nach den traditionellen Kriterien des sozialistischen Wirtschaftens als effektive Manager empfinden. Zwei neue Stellvertreter sind aus diesen Reihen schon dem Premier Jegor Gaidar an die Seite gestellt worden: Viktor Tschernomyrdin, ehemals Erdölbaron des staatlichen Mammutkonzerns Neftgasprom, heute verantwortlich für Heizstoff- und Energieversorgungsfragen, und Georgi Chischa, bis vor kurzem eine der Koryphäen der St. Petersburger Rüstungsindustrie, der heute für die Industrie im allgemeinen verantwortlich zeichnet.
Die Folgen ihres Mitwirkens in der Politik sind schon ersichtlich. Die Befreiung der staatlichen Mammutunternehmen von ihren munter eingegangenen gegenseitigen Schulden habe unter Chischa und Tschernomyrdin — so klagt der Chef der Moskauer Waren- und Rohstoffbörse, Konstantin Zatulin — zu einer unverhältnismäßigen Benachteiligung der privaten Unternehmen geführt. Die Position der letzteren werde noch dadurch verschlimmert, daß die Staatskonzerne nun für ihre raren Ersparnisse einen Inflationsausgleich bekommen, was für das private Kapital mitnichten ins Auge gefaßt wird. Der Moskauer Kapitalist Zatulin will die Selbstcharakterisierung der „Bürger-Union“ als Unternehmerverband auch nicht anerkennen. Das seien „Hersteller“ von oft veralteten und schwer absetzbaren Waren. Mit westlichen Managern verbände diese Leute zwar der Lebensstil, meint er, wohl kaum aber das von ihnen getragene Risiko.
Am letzten Wochenende veröffentlichte die „Bürger-Union“ ihr Wirtschaftsprogramm. Die Zeitschrift Kommersant wertet es als das erste ernstzunehmende oppositionelle Konzept, mit dem sich Jegor Gajdar auseinanderzusetzen hat. Eine der Forderungen besteht in der Anhebung der Mehrwertsteuer auf satte 55 Prozent — gewiß eine effektive Maßnahme, um Privatunternehmer und ausländische Investoren endgültig von ihren Vorhaben abzuschrecken.
Boris Jelzins Beraterteam, vor dem letzten August eine Art Tafelrunde der russischen Intelligenz, hat sich längst strukturell gewandelt. Kluge Köpfe wie der Jurist Sergej Schachraj — Jelzins Advokat im KPdSU-Prozeß — und sein Pressesprecher zu Putschzeiten, Pawel Woschtschanow, zogen es vor, sich rechtzeitig aus dem Team zu entfernen. Fatal wirkt dies angesichts der Tatsache, daß Jelzin selbst nie ein Motor einer bestimmten Politik gewesen ist. Einmal von den Massen bei seinem Gerechtigkeitssinn gepackt, sank er während seiner Jahre in der Opposition förmlich in die Rolle des politischen Märtyrers hinein und überließ die taktischen und strategischen Details den klugen Köpfen, die ihn als Leitfigur adoptierten.
„Naiv sind Spekulationen darüber, daß sich ehemalige Parteiapparatschiki gleichsam in die Umgebung des russischen Präsidenten eingeschlichen hätten“, schreibt Woschtschanow zum Jahrestag des Putsches in der Komsomolskaja Prawda: „Sie haben sich nirgendwohin geschlichen und sind auch nicht gerannt oder gegangen. Sie sind einfach auf ihren Plätzen sitzen geblieben und haben bereitwillig dem neuen Hausherren des Kreml die Treue geschworen. Anders hätte es auch gar nicht kommen können, denn der kriminelle Staat ist wesentlich widerstandskräftiger als sein Parteiüberbau.“
„Wenn wir glauben, wir hätten mit dem Sieg über die Putschisten eine Revolution vollbracht, dann belügen wir uns selbst“, sagt mir die vierzigjährige Sekretärin Larissa, die letztes Jahr selbst zwei bange Nächte vor dem Weißen Haus verbracht hat. „Heute sehen wir, daß dies keine Revolution war, sondern ein Umschwung, am ehesten eine Häutung. Gehäutet hat sich die Nomenklatura-Schlange, die sich vom alten ideologischen Ballast befreien mußte, um ihre wirtschaftlichen Ziele unbeschwerter zu verfolgen.“
Der Prozeß um die Verfassungsmäßigkeit des präsidialen KPdSU- Verbotes erscheint in diesem Sommer ein wenig antiquiert, da offenbar niemand diese Organisation mehr benötigt, am wenigsten ihre ehemaligen Führer. Einsam stehen die dreizehn Verfassungsrichter vor den Kameras mit dem Angebot ihrer unbestreitbaren Gewissenhaftigkeit, und einsam müssen sie sich auch im Privatleben fühlen, ein jeder bewacht von einer soliden Handvoll gestandener KGBler. Tatsächlich vollzog der geschlossene Klan der Nomenklatura seine Machtausübung bei weitem nicht nur in den Parteigremien, sondern parallel dazu auch über staatliche Ämter, in der Wissenschaft oder Wirtschaft, und jeder Karrierist der alten Elite achtete darauf, daß ihn seine Laufbahn durch mindestens drei verschiedene Strukturen führte. In jedem dieser Fachgebiete konnte er auf zuverlässige alte Kumpel zurückgreifen, die ihm durch gemeinsame Vergehen verbunden waren.
Nicht überflüssig sind allerdings die Gelder der überflüssigen Partei. Zu Beginn des Jahres wurde von der Presseabteilung des russischen Obersten Sowjet groß die Enthüllung der Parteimachenschaften angekündigt. Die entsprechende Pressekonferenz fiel leider aus, und später flossen die Informations-Rinnsale immer spärlicher. Ex-Pressesprecher Woschtschanow zufolge war das ein deutliches Anzeichen dafür, daß einflußreiche Kreise in der neuen Regierung den Enthüllungsprozeß bremsen. Und er nennt auch konkrete Personen, die für derartige Aktivitäten in Frage kommen — darunter Valentin Leschtschinski, einer der Stellvertreter Nikolai Krutschinas, der die Finanzoperationen des ZKs leitete. Heute ist Leschtschinski einer der Verantwortungsträger in der Administration des Präsidenten. Und kaum eine Person — nicht einmal Gorbatschow selbst, so vermutet Woschtschanow — wußte mehr über die Finanzen der Partei als Arkadi Wolski.
Wer trotzdem lacht
Dmitrij Lichatschow, das 86jährige Mitglied der Akademie der Wissenschaften, geachteter Literaturwissenschaftler und Ex-Gulag-Häftling, glaubt immer noch, daß ein neues goldenes Zeitalter der russischen Kunst und Literatur bevorstehe. Vorläufig wird auf kulturellem Gebiet aber kaum Nennenswertes produziert und dafür sehr viel geteilt. Geteilt werden Schriftstellerverbände, Erholungsheime und sogar Theater. Großverlage teilen sich — oft bei Beibehaltung des gemeinsamen alten baulichen Körpers — wie Krebszellen.
Manchmal geht manchem das Teilen zu weit, zum Beispiel Dmitrij Lichatschow selbst, der in einem Interview mit Moscow News empört dagegen protestierte, daß im Minsker GUS-Abkommen die „Teilung und Rückführung“ der Kunstschätze der einzelnen Mitgliedsländer gefordert wird. Empört protestiert das Akademiemitglied gegen „diesen Unsinn“ und fragt: „Sollen wir nun aus den Kiewer Kathedralen die Fresken des Russen Andrej Rubljow mit dem Beil heraushacken?“ Lichatschow spricht von der Gefahr vieler „kultureller Karabach-Konflikte“. Er ist auch Mitunterzeichner eines offenen Briefes der Direktoren vieler großer Bibliotheken und Museen an Präsident Jelzin, den die Nesawisimaja Gaseta veröffentlichte, unter der Überschrift: „In fünf bis sieben Jahren wird Rußland alles verloren haben.“
Die Bibliotheks- und Museumsdirektoren sehen sich nicht nur einer Periode nicht gewachsen, in der die staatlichen Gelder fast völlig und scheinbar schon für immer versiegt sind. In der St. Petersburger Bibliothek der Akademie der Wissenschaften sind große Bestände einem Brand zum Opfer gefallen. Die größte Bibliothek des Landes, die bisherige Lenin-Bibliothek in Moskau, mußte wegen Baufälligkeit geschlossen werden, wodurch zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten zum Stillstand kamen. Die Museen klagen vor allem, daß ihre Bestände von selbstherrlichen Gemeinden zu Repräsentationszwecken geplündert werden. Im Zuge der galoppierenden Religiosität, von der regionale und nationale Politiker befallen werden, läßt sich die Kirche zunehmend Kunstschätze per Dekret rückerstatten, die aus dem musealen Kontext gerissen und oft nicht mehr angemessen betreut werden.
Die neue Blüte der russischen Kultur — dies räumt auch Dmitrij Lichatschow ein — werde sich erst auf der Grundlage einer stabilen Alltagszivilisation in Rußland entfalten können. Diese aber sei kaum vor dem nächsten Jahrtausend zu erhoffen. Aber das ist ja auch nicht mehr weit hin.
Und der nächste Putsch?
Daß er in diesem Jahre völlig ausbleibt, zu dieser Überzeugung sind in diesem Monat nach einer Umfrage des „Instituts für die Soziologie des Parlamentarismus“ 42 Prozent der Moskauer gelangt, und nur 29 Prozent halten ihn ausdrücklich für möglich. Noch im vorigen Monat waren die Zahlen fast umgekehrt. Daraus läßt sich messerscharf schließen, daß auch die Hauptstädter selbst, ebensowenig wohl wie die sonstigen Russen, an keinerlei Aufstände denken.
Mit Mißtrauen gegenüber allen denkbaren Regierungen und von Verachtung für die zahlreichen Umweltgifte in ihrer Umgebung erfüllt, widmen sie sich selbständig der Vorsorge für den Winter, kochen umstandskrämerisch Pilze und Beeren ein und versuchen, ein paar einbruchsfeste Gitter für ihre Fenster zu organisieren. 59 Prozent der Moskauer wollen nicht glauben, daß Rußland ein demokratisches Land geworden ist. 70 Prozent sind unzufrieden mit ihrem eigenen Leben. 30 Prozent meint, daß ihnen gewisse Änderungen Hoffnungen einflößten, tun sich aber schwer damit, diese zu beschreiben — und nur 15 Prozent spüren die Annäherung an den Markt, breitere Möglichkeiten für Privatinitiative. Schließlich begrüßen ganze acht Prozent bessere Informationen, eine neue Freiheit und das Ende der KPdSU-Herrschaft.
Es ist die Tragik Boris Jelzins, daß er, der in den Tagen des Putsches dem Volk als die Inkarnation des starken Führers erschien, es nicht vermocht hat, eine ebenso starke Exekutive zu schaffen, die dem noch unter dem lokalen Druck und den Drohungen der KPdSU-Funktionäre gewählten Parlament Paroli bieten könnte. Diese Körperschaft, die sich Reformen gegenüber bisweilen geradezu bösartig obstruktiv verhält, zerfällt dank des Mangels an meinungsbildenden staatstragenden Parteien in eine amorphe Masse.
Die politische Bedeutung seines Sprechers, Ruslan Chasbulatow, wächst in dem Maße, in dem er sie zu manipulieren versteht. Viel wurde in den letzten Wochen in der russischen Öffentlichkeit der Vorschlag diskutiert, in der parlamentarischen Sommerpause das mißliebige Gremium einfach aufzulösen und danach durch ein Referendum über eine neue Verfassung Neuwahlen zu erzwingen. Doch die Bürger werden sich wohl kaum zu einer derartigen Abstimmung mobilisieren lassen. Und wenn der Präsident ohne Parlament regierte? Dann könnte der „Sicherheitsrat“ die Macht übernehmen, ein Organ, das erst unlängst durch einen Präsidenten-Ukas das Licht der Welt erblickte — die bisher monströseste Geburt der neuen russischen Staatlichkeit.
Dieser Rat, dessen Vorsitz formal beim Präsidenten liegt, soll alle möglichen Arten von Gefahren für den Staat prognostizieren und im Falle eines Ausnahmezustandes Miliz, Heer und Sicherheitsorgane koordinieren. Da er die Notwendigkeit eines Ausnahmezustandes auch selbst definiert, sind seinen Aktivitäten praktisch keinerlei Grenzen gesetzt. Sekretär und praktischer Leiter des neuen Gremiums wurde im Einklang mit Jelzins neuer Vorliebe für gut abgehangene Kader der oben bereits erwähnte Juri Skokow. Er ist als strammer Militarist verschrien.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen