: »In die Schule gehen ist doch Scheiße«
■ Für 38.000 Kinder begann der Ernst des Lebens/ Auch die acht Kids des Kinderladens Pinguin müssen jetzt früh raus
Berlin. Mit Schleifchen im Haar, weißen Strümpfen, Lackschuhen und schickem Kleidchen die einen, in stinknormalen Jeans und Sweat- Shirt die anderen, rutschten sie, Schultasche und -tüte fest umklammert, in den Aulen unruhig auf ihren Stühlen hin und her: Für 38.000 Berliner Kinder begann am vergangenen Samstag der Ernst des Lebens. In den meisten der rund 500 Grund- und Sonderschulen wurde der Beginn der Schulzeit mit einer Aufführung gefeiert. Die Mütter, Väter, Omas, Opas, Tanten und Freunde waren fast noch aufgeregter als ihre Zöglinge. Als die Pimpfe von ihren neuen Lehrern in die Klassenzimmer entführt wurden, konnte sich manche Mutter der Tränen nicht erwehren, während die Väter ihre Rührung durch heftige Betriebsamkeit mit der Videokamera oder dem Fotoapparat zu verbergen suchten. Nur die 75 Erstkläßler der Tiergartener Hansa- Grundschule wurden ohne Feier empfangen. Das Fest war wegen eines Protests der Lehrer gegen die umstrittene zusätzliche Unterrichtsstunde ins Wasser gefallen, soll aber heute während des regulären Unterrichts nachgeholt werden.
Unter den 52 ABC-Schützen, die am vergangenen Samstag in Klassenstärken von jeweils 26 in der Schöneberger Werbellinsee-Grundschule aufgenommen wurden, sind viele Kids aus sogenannten Eltern-Initiativ-Kinderläden. Anna, Gill, Lotte, Peer, David, Joan, Sammy und Jonny kommen aus dem am Winterfeldtplatz gelegenen Kinderladen »Pinguin«. Auf Wunsch ihrer Eltern besuchen die sechs- und siebenjährigen jetzt alle dieselbe Klasse. Mit vier weiteren Jungen und Mädchen aus dem Kinderladen »Frechdachs« haben die Zöglinge der Schöneberger Alternativen die Klasse 1b schon fast in der Hand. Für die Rektorin der Werbellinsee-Grundschule, Ellen Hansen, ist dies jedoch kein Grund zur Beunruhigung. Im Gegenteil. Die Schule mache schon seit langem überaus positive Erfahrungen mit Kinderladen-Kindern. »Die meisten dieser Kinder sind sehr kooperativ und selbständig. Davon können die anderen Kiezkinder nur profitieren.« Es sei auch keinesfalls so, daß die Kinderladen-Zöglinge einen harten Kern bilden und ihre Mitschüler ausgrenzen würden, denn: »Kinder mischen sich sehr schnell«.
Auch mit den alternativ eingestellten Eltern, so Ellen Hansen, habe die Schule gute Erfahrungen gemacht. Diese könnten sich auf Elternabenden besser artikulieren, hielten mit Problemen weniger hinter dem Berg und seien überaus hilfsbereit, wenn es um die Integration von ausländischen Schülern ginge. Im Gegensatz zu anderen Schulen kämen die Kinderladen-Eltern und die »normalen« Eltern auch sehr gut miteinander aus. Daß es auf der Werbellinsee-Grundschule nicht solche »Meckerer« wie unter den Eltern in Süd-Schöneberg gibt, erklärt sich die Rektorin mit der Bevölkerungsstruktur rund um den Winterfeldtplatz. Die Menschen hier seien in der Mehrzahl keine untoleranten Law- and-order-Typen, sondern würden den Kiez in seiner breiten Mischung voll anerkennen.
Und was für Gefühle haben die Pinguine bei dem Gedanken an die Penne? »Toll«, schreien Peer, David, Anna, Gill, Lotte, Joan und Sammy am Vortag der Einschulung wie aus einem Munde. »Ist doch Scheiße«, funkt Jonny dazwischen. »Dann muß ich Schularbeiten machen und kann nicht mehr spielen, wann ich will.« Einvernehmen herrscht jedoch darüber, daß auf dem Spielplatz der Schule ein tolles Klettergerüst steht, an dem es nur leider ziemlich stinkt. »Das ist ein Geheimversteck für Hundekacke«, haben Peer und David entdeckt. Für die Kids steht fest, daß sie nach der Schule weiter zu den Erziehern Katrin und Norbert in den Pinguin gehen werden. Die Erzieher, die die Blagen schon seit Windelzeiten kennen, waren bei der Einschulung selbstredend zugegen. Das Taschentuch, mit dem sich Katrin und die Mütter die Tränen trockneten, soll im Laden neben dem selbstgemalten Pinguin mit der Schultüte verewigt werden. plu
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