: Geschlossene Konzeptionen
Das 45. Internationale Filmfestival in Locarno brach mit Traditionen/ Keine Wiederholung von Filmen der Festivals von Cannes und Berlin mehr, sondern ein ambitionierter Wettbewerb ■ Von Oksana Bulgakowa
Ein Bruder lebt in Paris, der andere in Budapest. Sie tauschen Botschaften in Gestalt von Videokassetten aus. Diese Amateuraufnahmen bringen ihr ganzes Leben durcheinander, sie decken eine dunkle Vergangenheit auf und zerstören die Gegenwart: „Video- Briefe schreiben“ von Arpad Sopsits wird nicht zur ungarischen Version von „Sex, Lies and videotapes“, sondern endet wie die alte Geschichte von Kain und Abel.
In „Quiyue“ schickt die Regisseurin Clara Law (Law Chuck Yin) ihren Helden, einen jungen Japaner, mit der Videokamera durch Hongkong, um die Topographie der Stadt — am Vorabend der Rückgabe an China — mit der Filmkamera zu entdecken. Die Realität im Film wird über das andere Medium wahrgenommen, entblößt und neu codiert. Die Spannung zwischen den verschiedenen Bildern soll Dramatik ersetzen. Dieses Spiel wird auch jenseits der Leinwand fortgesetzt (Goldener Leopard '92).
Jeden Abend auf der Piazza Grande tastet eine Videokamera die sitzende Menge ab und macht die Zuschauer zu den Akteuren eines Vorfilms. Ihre Gesichter werden auf die riesige Leinwand projiziert, aus Porträtskizzen entstehen kurze Charakterstudien. Dann, bei der Vorstellung der Filmemacher, schaut man kaum noch auf deren „reale“ Figuren: Die Augen richten sich auf die Großaufnahmen in einer Ecke der Leinwand, von der Videokamera ausgeschnitten und mit den Körpern in der Totalen „montiert“.
Die Realität wird „mediatisiert“ und auch so wahrgenommen; sie wird mehr und mehr zum „gemachten Bild“ stilisiert. Im heutigen Autorenfilm dagegen, wenigstens in der Auswahl, die 1992 in Locarno vorgestellt wurde, dominiert die Konzeption das Bild. Auch wenn in den Filmen nicht viel gesprochen wird, die Kameramänner gut komponierte Einstellungen bauen und die Lichtempfindlichkeit des Filmmaterials radikal ausreizen, erscheinen die Bilder als Illustrationen einer deklarierten oder verschlüsselten, abstrakten Botschaft, die meist noch neben den Filmen — in Erklärungen, Vorgeschichten oder Interviews — existiert.
Die Spannung dieses Festivals erwuchs früher aus der Konkurrenz des Wettbewerbsprogramms (ambitionierte Arbeiten junger Filmemacher) mit den „Filmen des Jahres“, die zuvor schon in Cannes und Berlin präsentiert worden waren. Mit dieser Tradition hat der neue Direktor des Festivals, Marco Müller, nun gebrochen und erstmalig vor den sechstausend Zuschauern auf der Piazza nicht die Erfolgsfilme des Jahres gezeigt, die sowieso in die Kinos kommen, sondern die, die sie möglicherweise sonst nie sehen würden: „Antigone“ von Straub/Huillet, den Dokumentarfilm von Richard Dindo „Charlotte, vie ou théÛtre?“ oder einen rumänischen Spielfilm über die Zeit nach Ceausescu. Mehr noch: Marco Müller will etwas am Prinzip der Institution üblicher Autorenfilmfestivals ändern. Diese haben sich längst überall auf der Erde verbreitet und sind eigentlich zu einem neuen Netzwerk aufwendiger Filmklubs geworden. Für eine Woche kommen plötzlich Filme aus der ganzen Welt in ein kleines Nest, das sie sonst nie erreichen würden, um dann, nach dieser Woche, für ewig wieder zu verschwinden. Marco Müller, der lange zwei solcher Festivals (in Pesaro und Rotterdam) geleitet hat, möchte gegen dieses Verschwinden Abhilfe schaffen. Und zwar mit Hilfe eines Festivals.
In der Nähe von Locarno liegt ein Berg, Monte Verità, auf dem in den zwanziger Jahren Künstler aus ganz Europa eine Art Kolonie gründeten. In dieses Haus lud Marco Müller 45 europäische Fernseh-Ankäufer und Filmverleiher ein. Sie sollten Mitbegründer einer neuen Stiftung werden: „Montecinemaverità“, die Projekte von Autorenfilmern unterstützt. Der Tadschike Bachtijar Chudojnasarow wird hier bereits gefördert, auch der Mexikaner Paul Leduc. Die Stiftung soll die Kontinente zusammenführen, die Erste Welt mit der Dritten und der dazwischen. Wo aber soll das Geld herkommen? Diese Frage ist noch offen, fürs erste sind da ein paar tausend Schweizer Franken von einem Mäzen auf dem Tisch. So wechselt der Film aus dem Bereich der Industrie in den Zirkel der klassischen Künste einer vorindustriellen Gesellschaft und wird, wie in der Renaissance, von Gönnern gefördert, von Liebhabern konsumiert.
Das Wettbewerbsprogramm setzte auf die Entdeckung. „Weltpremiere“ oder mindestens „eine europäische Erstaufführung“ stand immer als Begleitbemerkung im Katalog. Das ganze Programm war durchkonzipiert. An einem Tag liefen Filme über Männerbeziehungen (zunächst in Portugal, dann in Argentinien), an einem anderen waren es lauter Filme über Kindheit. Die Kindheit als Trauma zwischen China, Italien und Portugal heute und West-Deutschland der 60er Jahre.
„Sishi puhuo“ („Familienporträt“) von Li Shaohong ist ein soziales Melodram — vor dem Hintergrund des Abtreibungsgesetzes und der verlorenen Illusionen einer Generation, die in ihrer Jugend euphorisch den Losungen der Kulturrevolution folgte. Ein junger Stadtintellektueller (ein Fotograf!) ging damals aufs Land, kehrte aber bald zurück, nach Peking. Seine Frau wollte sich nicht von ihrem Heimatdorf trennen, nun holt den Helden die Vergangenheit ein — in Gestalt eines unbekannten Sohns.
In Italien („Baby Gang“ von Salvatore Piscicelli) geht ein lieber blonder Bube aus Liebe zu seinem drogenabhängigen älteren Bruder auf die Suche nach Stoff und versorgt das Baby des Bruders mit der Flasche. Selbst das Junky-Milieu also paßt sich ein in das Bild einer „menschenfreundlichen“ Filmwelt.
In „Kinderspiele“ von Wolfgang Becker geht es schwer und dramatisch zu. Eine Kindheit in Deutschland ist kein Spaß. 60er Jahre, Kleinstadt, das Milieu armer Würstchen, an denen das Wirtschaftswunder vorüberging. Die technischen Neuheiten funktionieren nicht: der Vater (ein Handwerker) kann weder das Springrollo noch eine Antenne anbringen, die Kinder sind ausweglosen Aggressionen, Brutalität und dem totalen Unverständnis der Erwachsenen ausgeliefert, die über die kraftlosen Alten und rechtlosen Kinder Macht ausüben. Die Mutter des 12jährigen Helden liebt nur den kleineren Bruder, wahrscheinlich ist es ein Kind aus ihrer inzestuösen Beziehung zum eigenen Bruder. Der Vater, ein aufbrausender Versager, ist eine lebende Illustration zu Wilhelm Reichs Studien über die Psychologie des Faschismus, und die Großmutter ein Wrack. Naturalistisch abstoßend, betont grob sind die Nahaufnahmen: fast pornographisch filmt die Kamera das Sterben eines siechen häßlichen alten Körpers. Doch der Film bleibt dieser naturalistischen Diktion nicht treu: die Stilistik rutscht bald in die unvermittelte Durchschnittlichkeit eines Fernsehbildes ab. Wenn das Bild versagt, muß Dramatik nachhelfen: Der ungeliebte, von der Mutter verlassene, vom Vater mißhandelte Sohn schlägt am Ende den Vater tot. Ein Foto mit Polizeiwagen vorm Haus, wie aus dem Dossier des Staatsanwalts, beendet den Film. Dieser ist nicht durchgehend intensiv, doch steckt sein gnadenloser Umgang mit dem Mythos „deutsche Kindheit“ an, die den Helden jäh mit Sex, Tod, Lieblosigkeit konfrontiert und ihn dem Leben ausliefert. (Um verbitterte, erfolglose Westler zu spielen, wurden Darsteller aus der DDR engagiert!)
Von den Filmen blieben Themen und einige versprengte Bilder im Gedächtnis. Allein auf das Bild baute konsequent ein postsowjetischer Film, der sich radikal jeder Geschichte zu entziehen suchte: Alexander Sokurows „Kamen“ („Der Stein“). Seine dunklen, verzerrten Bilder atmen mit ihren verlangsamten Bewegungen Todesangst und Todeserwartung.
Ein Mann kommt in ein leeres Haus. Nimmt ein Bad, zieht sich an, setzt sich an den Tisch mit einem jungen Diener, der mit ihm sein Brot teilt. Vielleicht ist es Anton Tschechow, der in sein Haus auf der Krim gekommen ist. Vielleicht ist es eine Station auf dem Weg ins Jenseits, und der Gestorbene wird von Petrus empfangen.
Die Wünsche sind ausgelöscht, sie kommen aber wieder: Der Gestorbene (oder Sterbende?) empfindet erst Kälte, dann Hunger, dann Sehnsucht. Doch als er wieder zu spüren lernt, endet der Film in totaler Finsternis. Am offenen Grab. Sogar Tschaikowskis Trauermusik aus der sechsten Symphonie scheint hier deplaciert — als eine viel zu optimistische Musik.
Die „Westler“ wunderten sich über die Düsternis der Bilder dieses Films aus Rußland, und die russischen Gäste konnten das schicke Ambiente eines Schweizer Kurorts kaum mit den häßlichen Geschichten in westlichen Filmen zusammenbringen. Aber dieses ewige gegenseitige Mißverständnis wurde an heißen Tagen mit kaltem Sekt weggespült.
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