: "All die Erschlagenen, wer lebt für die?"
■ Der Hamburger Künstler Heinz Richheimer hat die Internierung in zwei KZs überlebt. Über seine Erinnerungen, sein Leben, über Schuldgefühle und Bewältigung sprach er mit Mechthild Bausch
hat die Internierung in zwei
KZs überlebt. Über seine Erinnerungen, sein Leben, über Schuldgefühle
und Bewältigung sprach er mit taz-Redakteurin Mechthild Bausch
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2å Vorbei an Wiesen und Feldern, Kühen, sogar ein Pferd, das am Ufer eines kleinen Flusses steht und den Kopf ins Wasser hängt. Es ist heiß, das Fenster ganz heruntergelassen. Auch Heinz Richheimer muß gerade diesen Weg gekommen sein, über die Autobahn Richtung Geesthacht, Ausfahrt Curslack, es ist ja ausgeschildert: Gedenkstätte Neuengamme fünf Kilometer, durch das
1Dorf und über den Deich, wo eine Straße, die links abgeht, „Zwischen den Zäunen“ heißt.
Er steigt aus dem Auto, vom Beifahrersitz, und geht um den Wagen herum. Freundlich sieht er aus, bedächtig, fast ein bißchen abwesend, jedenfalls nicht sehr aufgeregt. Er spricht nicht laut, er kann nur flüstern, eine Verhärtung der Stimmbänder sei der Grund, sagt er. Wir gehen hinüber zu dem großen schwarzen Würfel, dem Dokumentenhaus des ehemaligen Konzentrationslagers, das auf dem kurzgeschorenen Rasen steht. Er schaut gar nicht um sich, blickt auf den Boden oder sucht mit den Augen nach seinen Begleitern. Ob irgend etwas so ist wie in seiner Erinnerung? „Nein“, sagt er, und das Rauschen der vielen Bäume ist fast so laut wie das rauhe Flüstern. „Aber das ist ja auch ein halbes Jahrhundert her.“ Was er damals bei seiner Ankunft im Lager wahrgenommen habe? „Ich erinnere mich an einen Wagen mit Gummirädern, der von Menschen statt von Tieren gezogen wurde.“
Sonderbefehl RU: „Rückkehr unerwünscht“
„6. Juni“ steht am Ende ganz zuoberst auf meinem Notizblock, die Scheu läßt einen wohl zunächst nach Daten greifen. Wegen Bombenangriffen auf die Innenstadt wurden die Häftlinge des Gefängnisses Fuhlsbüttel im Juni 1944 nach Neuengamme gebracht, darunter auch der „Polizeihäftling“ Heinz Richheimer, damals 24 Jahre alt. Im gleichen Transport waren seine Freunde Max Kristeller, Felix Jud und Jürgen Friedemann, mit denen er 1942 eine Widerstandsgruppe in Hamburg gegründet hatte, die Flugblätter verteilte, Verfolgte des Nazi-Regimes versteckte und Kontakte ins „feindliche Ausland“ unterhielt.
Direkte Verbindung bestand auch zu den UKE-Ärzten Heinz Lord, John Gluck und dem Studenten Frederik Geussenhainer, die ihrerseits Kontakt zur Weißen Rose in München hielten. Auch sie waren in dem Transport vom Gefängnis Fuhlsbüttel ins KZ Neuengamme.
Für Heinz Richheimer und Jürgen Friedemann war Neuengamme nur eine Durchgangsstation auf dem Weg ins österreichische KZ Mauthausen, wohin sie schon wenige Wochen später mit „Sonderbefehl RU“ — „Rückkehr unerwünscht“ — deportiert wurden. Auch John Gluck, Max Kristeller und Frederick Geussenhainer kamen später dorthin. Von allen hier Genannten erlebte Geussenhainer die Befreiung nicht mehr.
Heinz Richheimer war nach den „Nürnberger Rassegesetzen“ ein „Halbjude“. Sein Vater, ein aus Heidelberg stammender Kaufmann jüdischer Herkunft, überlebte Nazizeit und Krieg, indem er sich mit Frau und Familie in einer Hamburger Wohnung versteckte. In Fuhlsbüttel gab es einen Aufseher namens „der Lange Paul“, erinnert Heinz Richheimer sich. „Und ich war so wahnsinnig blond und sah so arisch aus, und der Lange Paul fragte mich, wie ich als deutscher Mann überhaupt dahin käme.“ Beim Transport nach Neuengamme habe ihn der Lange Paul in die Bauchdecke getreten, und, als er ihn dann wiedererkannte, sich „quasi noch entschuldigt“.
Ein Weg führt über den grünbewachsenen Boden hinüber zu dem rekonstruierten „Plattenhaus“, eine Art behelfsmäßiges Einfamilien-Musterhaus, das KZ-Häftlinge nahe des Grabens, der das Gelände von der Zufahrtsstraße trennte, aufbauen mußten. Im Plattenhaus, in dem heute ein Büro ist, treffen sich Heinz Richheimer, sein Freund Jörg Stange und Detlev Garbe, Leiter der Gedenkstätte, zu einem ersten Gespräch: Die Mitarbeiter der Gedenkstätte erstellen eine Dokumentation über das Leben ehemaliger KZ-Häftlinge. Das Projekt umfaßt bereits Gesprächsprotokolle mit über 100 ehemaligen Gefangenen aus ganz Europa.
„Sagen Sie, ich war Block 17, wo war das denn?“, fragt Heinz Richheimer und erfährt, daß die Holzbaracken des damaligen „Quarantänelagers“, in dem die Polizeihäftlinge isoliert wurden, nach dem Krieg abgerissen worden sind. Auch an die Ziegelbrennerei erinnert Richheimer sich noch und erkundigt sich, ob es die noch gibt. Sie steht noch, und er ist vor zehn Minuten daran vorbeigegangen.
Heinz Richheimer fragt nach einer Scheibe Brot. Eine Scheibe Brot gibt es hier nicht, dafür aber Kekse. Er erzählt dann, wie er im KZ Mauthausen Auftragsporträts zeichnete und dadurch „Vorzugsposten“ bekam. Irgendwann habe „Hamburg rückgefragt, ob wir etwa noch leben“. Dann habe man ihn gefoltert. „Ich hatte ein neues Deutschlandlied geschrieben“, sagt er und stimmt unvermittelt und mit heiserer Stimme eine Strophe an: „Sie sollen die Ketten tragen. Wir wollen die Freien sein“. Er habe das Lied gesungen, und, als die Folterer, erst völlig erstaunt, weiter mit dem Ochsenziemer auf ihn eingeschlagen hätten, wieder von vorne angefangen. „Ich kam da raus und habe nur gelacht“, sagt er, „ich habe keine Schmerzen gespürt, obwohl mein Rücken blutig geschlagen war.“
„Wer das KZ überlebt hat, fühlt sich oft schuldig“
Da hatte es sich auch schon herumgesprochen, das mit seinem Deutschlandlied, er sei eine Art Held gewesen. Nach ihm war ein Zeuge Jehovas dran. „Wie hießen die noch damals?“, fragt er in die Runde. „Bibelforscher“. Und als entfessele dieses Wort einen Sturm der Erinnerungen, bricht er plötzlich in ein irres Lachen aus, das eigentlich kein Lachen, sondern ein Schmerz ist. „Bibelforscher“, wiederholt er. „Den haben sie mit Hunden zu Tode gehetzt.“
„Wissen Sie“, sagt er, und das ist bei unserer zweiten Begegnung, die eine Woche später in seiner
1Wohnung in Alsterdorf stattfindet, „es ist oft so, daß Menschen, die das KZ überlebt haben, große Schuldgefühle haben, weil sie glauben, die anderen, die Toten, sind für sie gestorben. Auch ich habe jahrzehntelang Alpträume gehabt, daß einer von ihnen vor meinem Bett steht und mich anklagt. Am besten kommt man darüber hinweg, wenn man in einer quasi adäquaten Situation etwas für jemand anderen tut.“ Und so habe er über 20 Jahre lang seine Frau gepflegt, die an Multipler Sklerose litt.
Von der Terrasse des Wohnzimmers geht der Blick ins Grüne, ein Kanal, Büsche, Bäume, dahinter versteckt Reihenhäuser. Von weitem ist das Autorauschen der Alsterkrugchaussee zu hören. An den Wänden hängen Bilder, die Heinz Richheimer gemalt hat, Aquarelle, Federzeichnungen, auch Ölbilder. In einem Bücherregal lehnen Fotopostkarten von Francois Truffaut und Audrey Hepburn.
Man könne sich die Aufbruchsstimmung, die direkt nach dem Krieg geherrscht habe, sicher heute nicht mehr vorstellen, sagt er. Ida Ehre gründete ihre Kammerspiele, Wolgang Borcherts Draußen vor der Tür wurde dort uraufgeführt... In einem Zimmer, in dem Richheimers Bilder aufbewahrt sind, steht auch ein in warmen Ölfarben gemaltes Porträt von Ida Ehre.
Nach der Rückkehr aus Mauthausen, ein Weg, den er zusammen mit Jürgen Friedemann zu Fuß be-
1gann, widmete er sich, nachdem er wieder einigermaßen bei Kräften war, der Malerei, dem Zeichnen, schrieb und drehte Dokumentarfilme, spielte Kabarett und traf sich mit all jenen, die ähnliches wie er er- und überlebt hatten: mit dem Buchhändler Felix Jud und Max Kristeller, der eine Galerie eröffnete, in der Heinz Richheimer seine Bilder ausstellte.
„Ein Jude ist für mich jemand, der verfolgt ist“
1958, im gleichen Jahr, als sie von Margaret Richheimers Krankheit erfuhren, zog das Ehepaar in die Alsterdorfer Wohnung ein. Auf der Terrasse konstruierte Heinz Richheimer eine große Sonnenuhr aus Glas für seine Frau. Er baute Rollstühle aus Rattan und Metall zusammen, auch eine Rampe vom Wohnzimmer nach draußen, über die er sie in den Garten fuhr. Viele Fotos von Schwänen und Enten, die in den Garten, sogar in die Wohnung kamen, kleben in seinen Fotoalben, und noch viel mehr Fotos von Margaret, die er Mäggi nennt, und für die er Kleider schneiderte und der er jeden „Hochzeitstag“ im Monat eine rote Rose schenkte.
Nach dem Tod seiner Frau fand er bald darauf eine neue Liebe — und heiratete sie. Als er seine in dieser Zeit entstandenen erotischen Zeichnungen ausstellte, hätten das einige seiner Bekannten
1nicht verstanden, ihm fast übelgenommen. Gekümmert habe ihn das aber nicht. Seine zweite Frau und er trennten sich nach einigen Jahren, und dann kam Corinna, seine um fast 30 Jahre jüngere Freundin, für die er ein ganzes Heft voller Liebesgedichte geschrieben hat, auch das Märchen von dem Bart, der, wenn man liebt, viel schneller wächst.
Ob er eine jüdische Identität habe, frage ich Heinz Richheimer am Ende des Gesprächs. Nein, sagt er, und, nach einer Pause: „Ein Jude ist für mich jemand, der verfolgt ist.“ Aber ähnlich wie der Jude und Schriftsteller Jurek Becker einmal auf diese Frage geantwortet hat, gebe es vielleicht so etwas wie ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das diese jüdische Identität ausmache. Er selbst fühle sich zum Beispiel Menschen vertraut wie der Frau in seiner Nachbarschaft, die lange Jahre an einer schweren Krankheit gelitten habe. „Verstehst du, was ich meine?“
Über Heinz Richheimer wurde das erste Mal am 12. Juni dieses Jahres in der taz geschrieben. Beziehungsweise: Heinz Richheimer schrieb selbst. Ausgangspunkt war eine Arbeit seines Freundes, des Hamburger Künstlers Jörg Stange, der seine Installation in der ehemaligen Polizeiwache in der Eppendorfer Martinistraße 40 in einem Mappenwerk dokumentierte. Heinz Richheimer kannte diese Wache noch aus Nazi-Zeiten.
Sein Bericht, den die taz damals veröffentlichte, wurde Teil des Mappenwerks, das inzwischen Jörgen Bracker, Direktor des Museums für Hamburgische Geschichte, gekauft hat. Gemeinsam wurde das Konzept für eine Art biographische Ausstellung von und über Heinz Richheimer entworfen, die das Museum 1993 zeigen wird.
Einen seltsamen Begriff von eines Menschen Zeit zeigt indes die Kulturbehörde: Jörg Stange hatte dort schriftlich angeregt, den heute 72jährigen Richheimer für seinen Widerstand im 'Dritten Reich‘ zu ehren, etwa, so schlug er vor, mit einer neuen Ida-Ehre- oder Wolfgang-Borchert-Medaille. In dem Antwortschreiben bedankte sich jetzt der leitende Regierungsdirektor Klaus-Peter Dencker im Namen der Senatorin „für den Hinweis“ und fährt fort: „Der Senat hat bisher zu den sogenannten 'runden‘ Geburtstagen oder bei ganz aktuellen Anlässen Ehrungen vorgenommen. Die nächste Möglichkeit wäre der 75. Geburtstag von Herrn Richheimer.“
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