: ÖTV in Katerstimmung
■ Hamburgs Reformer sehen Erneuerungsprozeß ins Stocken geraten
ins Stocken geraten
Eine Lohnrunde 1993 mit drohenden Reallohnverlusten, ein Funktionärsapparat, der sich hartnäckig gegen Reformen sträubt, eine Basis, deren Unmut und Frust noch wachsen — dieses brisante Gemisch kennzeichnet nach Auffassung des Hamburger ÖTV-Bezirksvorsitzenden Rolf Fritsch die aktuelle Lage seiner Gewerkschaft.
Fritsch, im November '91 als Radikal-Reformer zum Stadt-ÖTV- Chef gekürt, konnte am Dienstagabend auf einer Diskussionsveranstaltung seine Enttäuschung nicht verbergen. Der große Streik im April, dessen Ergebnis der Stuttgarter Hauptvorstand trotz eines
1Neins in der Urabstimmung unterschrieb, hatte die Schwächen der Gewerkschaft unverhüllt offengelegt: Konzeptionslosigkeit, verkrustete Strukturen und jahrzehntelange Versäumnisse in der Tarifpolitik, die zu einem Lohnrückstand von 30 Prozent gegenüber der Privatwirtschaft geführt haben.
Viele Erneuerer, im ÖTV-Slang „Rebellen“, hatten große Hoffnungen auf den Gewerkschaftstag im Juni gesetzt. Das oberste Gewerkschaftsgremium, das nur alle vier Jahre zusammentritt, sollte — so das Kalkül — aus Frust, Wut und bitterer Selbsterkenntnis reformerische Konsequenzen ziehen. Dazu
1kam es laut Fritsch nicht: „Wir haben leider nicht die notwendigen Beschlüsse gefaßt. Wir haben nichts grundlegend Neues beschlossen.“ Der Stuttgarter ÖTV- Sekretär Werner Sauerborn, am Dienstagabend Gaststar der Reformdiskussion, pflichtete Fritsch zwar in der Sache bei, drehte die ÖTV-Probleme aber ins Positive. Nun werde, so Sauerborn, der neugewählte Hauptvorstand die Reform anpacken. Der Stuttgarter empfahl der ÖTV erstmal eine „Phase der Diskussion“, damit beim außerordentlichen Reformparteitag in zwei Jahren Nägel mit Köpfen gemacht werden könnten.
Fritsch ist da skeptisch: „Ich weiß nicht, ob sich die Probleme nach unserem Zeitplan richten.“ Und, schlimmer noch: Die neue Linie der ÖTV-Chefin Wulf-Mathies, mit Realismus in die Tarifrunden zu gehen und sich auf das Prinzip einer „repräsentativen ÖTV-Demokratie zu berufen“, bedeute programmierten Lohnverzicht und neuen Streit mit der Basis: „Die kommende Lohnrunde wird noch viel problematischer als die zurückliegende.“ Kritik sandte Fritsch aber auch an die eigene Adresse: „Als die Reformer-Gruppe auf dem Gewerkschaftstag zu einer gemeinsamen Linie gefunden hatte, war der Gewerkschaftstag schon vorbei.“ Florian Marten
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen