: Robespierres Erben und der Werteverlust
Robespierres Erben und der Werteverlust
Sternstunden in der Hamburger Bürgerschaft? Doch, doch, sehr selten zwar, aber es gibt sie noch. Am späten Mittwochabend war es mal wieder soweit. An vorletzter Stelle der Tagesordnung lauerte das Thema „Werteverlust und Werteerziehung“. Ein Antrag der CDU an den Senat, ein Konzept zur Werteerziehung zu erarbeiten, mit dem die Politiker dann vereint allem Bösen dieser Stadt zu Leibe rücken könnten. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, zumal der Antrag abgelehnt im Rathaus-Orkus verschwinden wird. Doch der von allen Nicht-CDU-Abgeordneten heftig umjubelte Debattenbeitrag der Noch-GAL-Abgeordneten Simone Dietz zwingt die taz dazu, die eigentlich beschlossene Nichtbefassung mit diesem Thema wieder fallenzulassen. Mit freundlicher Zustimmung der Autorin veröffentlichen wir die Rede in (leider) gekürzter Fassung:
(...) Meine Damen und Herren, es ist nicht schwer zu erkennen, worin der Kern, die große Herausforderung dieses Antrags liegt: die Grundlegung eines allgemeinen Wertekanons, der gleichsam als Fels in der Brandung der Moderne Orientierung verleiht.
Was sich uns im bescheidenen Gewand eines einfachen Bürgerschaftsantrags präsentiert, ist in Wahrheit ein flammender Aufruf an die Menschheit, sich auf ihre sittlich-moralischen Grundlagen zu besinnen. Es handelt sich um nichts Geringeres als um das Vorhaben, Immanuel Kants „Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten“ noch einmal zu schreiben! Übereinstimmend mit Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU, war auch Kant davon überzeugt, daß „eine Metaphysik der Sitten unentbehrlich notwendig“ sei, „weil die Sitten selber allerlei Verderbnis unterworfen bleiben, so lange jener Leitfaden und oberste Norm ihrer Beurteilung fehlt“.
Aber man würde den Antragstellern nicht gerecht, wenn man sie mit Kant auf eine Stufe stellen wollte. Nein, ihre Forderungen gehen weit über Kant hinaus. Sie begnügen sich nicht mit einer bloßen Revolution der Denkart, sie wollen auch die Revolution des Staates! Denn ihnen geht es nicht nur um die theoretische Begründung sittlicher Normen, sondern auch um deren politische Durchsetzung.
Nach dem Willen der Autoren dieses Antrags soll unser Parlament nicht länger ein Ort der Legislative sein. Nein, wo der französische Revolutionär Robespierre gescheitert ist, schlagen unsere CDU-Abgeordneten wieder zu. Das Parlament als Tugendwächter — dies ist die wahrhaft umstürzlerische Absicht dieses Antrags. Er ist ein gezielter Anschlag auf die freiheitlich demokratische Grundordnung.
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