Stell dir vor, die Ampel wird rot...-betr.: "Radfahrer - Freiwild auf Berliner Straßen" von Miriam Hoffmeyer, und "Unfallrisiko: Vertrauen" von Dirk Wildt, taz vom 10.8.92

Betr.: »Radfahrer — Freiwild auf Berliner Straßen« von Miriam Hoffmeyer, und »Unfallrisiko: Vertrauen« von Dirk Wildt, taz vom 10.8.92

Stell Dir vor, die Ampel wird rot, und ich freue mich auf die zirka einminütige Pause. Für viele Fahrradfahrer inzwischen unvorstellbar, denn es geht heute um digital erfaßte Tageshöchstgeschwindigkeiten, um Durchschnitskilometerleistungen, um Durchschnittsgeschwindigkeiten. Es geht darum, besser und schneller zu sein als das Auto, als der Fußgänger. Konkurrenz und Hetze führen zwangsläufig zur Rücksichtslosigkeit, zum zwanghaften Verhalten, die 60 Sekunden Rotphase durch waghalsige Manöver zu verkürzen, nicht radzufahren, sondern radzurasen. Da viele Radfahrer auch Autofahrer sind, ist zu befürchten, daß genau diese gehetzten Radfahrer mit dem Auto (und dem Fahrrad auf dem Gepäckträger) über rote Ampeln fahren werden — warum eigentlich nicht — man hat doch alles im Griff — und die Statistiker geben ihm recht: Autofahrer, die bewußt über rote Ampeln fahren, verunglücken nie tödlich — wie bei den Radfahrern. Und was dem Autofahrer und Radfahrer heilig ist, ist dem Fußgänger recht: Wer bei Rot wartet, ist »out« und verliert wertvolle Zeit. Also bei Rot geht's los! Die Frage ist nur, wie wir das unseren Kindern (und alten Menschen) beibringen wollen? Rot kann mal grün sein, mal gelb oder mal wirklich rot — je nachdem. Kinder aber können entwicklungsbedingt (gehirnphysiologisch) noch gar nicht selbständig entscheiden, wann sie bei Rot über die Ampel gehen können und wann nicht. Kinder haben — im Gegensatz zu Erwachsenen — einen kleineren Blickwinkel, eine niedrigere Reaktionsgeschwindigkeit, haben kaum Möglichkeiten, einen so komplexen Vorgang mit vielen Regeln und Ausnahmen in kürzester Zeit zu durchschauen und in eine sinnvolle, gefahrfreie Handlung umzusetzen. Kinder neigen vielmehr zum Imitieren, zum spontanen Hinterherlaufen und kindgerechten, unüberlegten Handlungen. Als besorgter Vater von drei (radfahrenden) Kindern bin ich zutiefst betroffen und beunruhigt über die sechs getöteten Kinder in Berlin die sich »verkehrswidrig« verhalten hatten. Empört bin ich über die völlig verdrehte Interpretation dieser tragischen Todesfälle vom Querspaltenschreiber Dirk Wildt!

Er zieht diese Todesfälle statistisch einfach ab, um somit sein eigenes »anarchistisches« Radfahren zu rechtfertigen. Die Feststellung der Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Fahrrad Clubs, daß es bei Mißachtung der roten Ampel statistisch zu keinem Unfall gekommen ist, weil »Wer so was macht, paßt auf«, ist eine indirekte Aufforderung, die Ampel (gefahrlos) bei Rot passieren zu dürfen. Dadurch machen sich der ADFC und Dirk Wildt zum Mitschuldigen an dem Tod der sechs Kinder, da sie den Kindern vormachen, wie man zum Beispiel bei Rot über die Ampel fährt — die Erwachsenen kommen dabei statistisch gesehen nicht um — aber unsere Kinder! Der ADFC ist aufgefordert, öffentlich zu erklären, wie die Verkehrserziehung der Zukunft gestaltet werden soll!

[...] Ein weiteres Problem ist die Geschwindigkeit. Wenn Autos langsamer fahren, gibt es weniger schwere Unfälle. Das gilt auch für Radfahrer. Langsam fahrende Radfahrer, die an Kreuzungen Blickkontakt mit dem abbiegenden Autofahrer aufnehmen, verunglücken besonders auf Radwegen viel weniger, als die Radraser, die »darauf vertrauen, daß die Autofahrer sie sehen würden«. Solange es noch Hauptstraßen gibt, müssen dort Radwege eingerichtet werden. Und die Wohngebiete müssen verkehrsberuhigt werden.

Ich selber fahre seit 35 Jahren leidenschaftlich Fahrrad und fühle mich auf dem Radweg viel sicherer als auf der Straße. Gefährdet bin ich, wenn ich vor einer roten Ampel abbremsen muß, da die nachfolgenden Radraser damit nicht rechnen und mir hinten drauffahren — und ich werde dafür beschimpft. [...]

Vielleicht muß leider doch jedes Fahrrad ein Kennzeichen erhalten, um somit der gefährlichen Entwicklung Einhalt gebieten zu können. Ich will aber die Hoffnung nicht aufgeben, daß wir durch mehr Ruhe und Gelassenheit, einer guten Verkehrserziehung und durch vorbildhaftes Verhalten der Erwachsenen in Zukunft weniger Tote und Verletzte auf den Straßen haben werden. Thomas Kohlstedt, Berlin 37

[...] Vielleicht haben Dirk Wildt und Uta Wobit auch schon mal bemerkt, daß es außer Rad- und AutofahrerInnen auch noch FußgängerInnen gibt. Vielleicht auch nicht, denn diese sind, inzwischen auch an das defensive Zufußgehen gewöhnt, was RadfahrerInnen betrifft, rechtzeitig zur Seite gesprungen.

Zur Nachhilfe: eine rote Ampel für den Verkehr bedeutet eine grüne Ampel für FußgängerInnen. Darunter befinden sich dann auch die in der Querspalte so hervorgehobenen Rentner und Kinder.

Wer zählt eigentlich die von »Bikern« (oh, yeah!) angefahrenen FußgängerInnen, und zwar auch die, die zum Beispiel glauben, auf einem Geh-Weg die Richtung wechseln zu dürfen ohne sich vorher vergewissern zu müssen, daß sie nicht mit einer RadfahrerIn kollidieren?

Bevor hier der Verdacht aufkommt, ich könne mich nicht in die Situation von RadfahrerInnen hineindenken, wie es so schön heißt, möchte ich betonen, daß ich auch Fahrrad fahre, und nicht nur sonntags. (Ich erinnere mich an einen Artikel in der taz zum Radfahren während des BVG-Streiks — da ging es um die blöden Sonntagsfahrer.) Jedenfalls darf ich dabei dann auch den »anarchistischen« Fahrstil von vielen der MitfahrerInnen genießen, die sich losgelöst von jeglicher Ordnung nur noch ihrer Selbstverwirklichung mittels »Frech kommt weiter« hingeben.

»Unfallrisiko: Vertrauen« stimmt schon. Wenn ich als Fußgängerin oder Radfahrerin darauf vertraue, daß FahrradfahrerInnen so fahren, daß sie mich nicht behindern oder gefährden, dann bin ich irgendwie nicht ganz up to date. Ingrid Stuchlik, Berlin 30