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Hat Genosse Honecker unmenschlich regiert?

■ Man will dem ehemaligen DDR-Chef den Prozeß machen, doch ein normales Strafverfahren wäre absurd/ Freispruch bedeutete Plädoyer für den Rechtsstaat

Es gibt verschiedene Varianten, wie man sich Staatsoberhäupter entledigt. Die Palette reicht vom Tyrannenmord über Lynchjustiz und Verbannung bis hin zum mehr oder minder freiwillig gewählten Exil. Nur einen Tyrannen kann ein Tyrannenmord ereilen, nur einen Napoleon schickt man in die Verbannung. All diese Varianten sind politisch vollkommen unproblematisch.

Im Unterschied zu den oben aufgezählten, sozusagen klassischen Umgangsformen mit Staatsoberhäuptern ist der Versuch, auf ein untergegangenes System mit den Mitteln der Justiz zu reagieren, indem man das Staatsoberhaupt anklagt, problematisch. Dem Staatschef vorzuwerfen, er habe gegen Gesetze verstoßen, ist ein Widerspruch in sich selbst, weil ein Staatsoberhaupt sich gerade dadurch auszeichnet, daß er die Frage, was rechtmäßig und was rechtswidrig ist, selbst festlegt. Das gilt auch für Honecker. Ihn anzuklagen bedeutet daher tatsächlich, ein politisches und juristisches System — und nicht die fragliche Person — der rechtlichen Beurteilung zuzuführen. Ein Prozeß gegen Honecker steht daher in der Tradition großer Prozesse wie die gegen die Könige KarlI. von England und LudwigXVI. und dem nicht geführten gegen Hitler.

Es ist daher absurd, Honecker in einem normalen strafrechtlichen Verfahren wegen individueller Taten — der Schüsse an der Mauer — anzuklagen und zu verurteilen. Weder hat er selbst geschossen noch hat er in einem strafrechtlich irgendwie plausiblen Sinne mittelbar veranlaßt, daß andere schießen. Alle Konstruktionen, die eine Verurteilung nach normalen strafrechtlichen Kriterien versuchen, befinden sich auf Abwegen. Vor diesem Problem stehen die Ankläger und all jene, die Honecker verurteilt sehen wollen. Rechtsgrundlage für eine Verurteilung ist nach dem Einigungsvertrag das Strafrecht der DDR. Damals war es, wie die Strafgesetze der DDR belegen, sehr wohl rechtmäßig, Republikflüchtlinge notfalls mit dem Mittel der Tötung an ihrer Flucht zu hindern. Jede Argumentation, die dies leugnet, basiert nicht wie vorgeschrieben auf DDR-Recht, sondern vielmehr auf der jeweiligen politischen Überzeugung.

Nur ein Napoleon wird in die Verbannung geschickt

Die Brisanz der Diskussion ergibt sich überhaupt erst daraus, daß eine normale strafrechtliche Verurteilung abzulehnen ist und dennoch der Eindruck einer Schuld bleibt. Honecker, so könnte man argumentieren, ist schuldig, weil er als Staatsoberhaupt Gesetze erlassen und damit eine Rechtslage geschaffen hat, die die Schüsse rechtmäßig sein ließen. Eine Verurteilung Honeckers könnte nur dann erfolgen, wenn man nicht die geltenden Strafgesetze heranzieht, sondern höherrangige Rechtsgrundsätze wie Gerechtigkeit oder Menschenwürde. Einer derart naturrechtlich begründeten strafrechtlichen Ahndung widerspricht allerdings das Rückwirkungsverbot, das im Grundgesetz und allen rechtsstaatlichen Verfassungen niedergeschrieben ist.

Dieser Rechtsgrundsatz dient vor allem der Rechtssicherheit. Er besagt, daß eine Handlung nur dann strafrechtlich sanktioniert werden kann, wenn diese Handlung bereits zu dem Zeitpunkt, als sie vorgenommen wurde, durch ein Gesetz verboten und mit Strafe belegt war. Das Rückwirkungsverbot in seiner reinen Form verbietet daher jeden Rückgriff auf anderes als die geschriebenen Gesetze.

Nun gibt es allerdings Positionen, die zu begründen versuchen, daß das Rückwirkungsverbot dann weichen muß, wenn es um hochrangige Rechtsgrundsätze wie etwa Gerechtigkeit und Menschenwürde geht. Die Prozesse müssen sich mit der Frage konfrontieren lassen, ob sie die Betonung auf die Rechtssicherheit legen und eine Verurteilung ablehnen oder ob sie höherrangigen Rechtsgedanken folgen, um darüber eine Bestrafung zu begründen.

Hitler wäre von den Alliierten zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Seine Verurteilung wäre aufgrund des Kontrollratsgesetz Nr.10 erfolgt, er hatte dessen sämtliche Tatbestände erfüllt: Kriegsverbrechen, Organisationsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Angriffe, denen sich die Nürnberger Richter und Ankläger ausgesetzt sahen, bestanden darin, daß aufgrund von Normen verurteilt wurde, die erst für diese Prozesse erlassen worden waren. Man warf ihnen vor, gegen das Rückwirkungsverbot verstoßen zu haben.

Die prominenteste Strategie, mit der die Außerkraftsetzung des Rückwirkungsverbotes begründet wurde, ist die von Gustav Radbruch, einem der berühmtesten Rechtsphilosophen der Weimarer Republik. Er schrieb 1946 in einem Aufsatz für die Süddeutsche Juristenzeitung, die in dem Rückwirkungsverbot normierte Rechtssicherheit trete dann zurück, wenn „der Widerspruch des (geschriebenen) Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ,unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“

Für eine Verurteilung Honeckers könnte dieser Gedanke fruchtbar gemacht werden, wenn sich nachweisen ließe, daß die Gesetze der DDR, die die Todesschüsse an der Mauer erlaubten, in einem unerträglichen Maße der Gerechtigkeit widersprochen hätten. Nach Radbruch ist der Kern der Gerechtigkeit die Gleichheit aller Menschen. „Wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung (der Gesetze) bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ,unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“

Sind die Schüsse an der Mauer un-gerecht?

Eine andere Strategie zur Umgehung des Rückwirkungsverbots schlägt der Professor der Rechtswissenschaften Bodo Pieroth vor. Er möchte das in Artikel 103, Absatz 2 im Grundgesetz festgeschriebene Rückwirkungsverbot um einen Ausnahmetatbestand ergänzen. Danach sollen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ unabhängig von den zur Tatzeit geltenden Gesetzen immer geahndet werden können. Diese Durchbrechung des Rückwirkungsverbotes durch eine Grundgesetzänderung sei deswegen legitim, weil lediglich die Strafgesetze, nicht aber das Verfassungsrecht selbst dem Rückwirkungsverbot unterstünden.

Pieroth meint mit dieser Argumentation den Einwänden zu entgehen, die Radbruch entgegengehalten wurden. Dieser mußte sich vorwerfen lassen, daß er der Subjektivität, der rechtlichen Willkür Vorschub leiste. Indem Pieroth die Einschränkung des Rückwirkungsverbots gesetzlich fixiert und ihr damit den Schein der Objektivität verleiht, meint er, diesem Vorwurf entgegenzuwirken.

Er verkennt dabei allerdings, daß der Gefahr des Subjektivismus durch die Verwendung so vager Begriffe wie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ Tür und Tor geöffnet sind. Derartige Begriffe sind unendlich interpretationsfähig und leicht gegen politische Gegner zu mißbrauchen. Das Rückwirkungsverbot verbietet jede Art von Unbestimmtheit bei Straftatbeständen, dabei sollte man es belassen. Bei der Pierothschen Argumentation handelt es sich um einen formal-juristischen Trick, womit das Rückwirkungsverbot in seinem Bestand zunichte gemacht wird.

Bei der Frage, ob Honecker wegen höherrangiger Rechtsgedanken zu verurteilen ist, stößt die Justiz an ihre Grenzen. Der Bereich der politischen Justiz wird betreten. Eine Verurteilung Honeckers wird immer auf einem Gerechtigkeitsgefühl und einer politischen Einschätzung beruhen und dabei das rechtsstaatliche Moment der Rechtssicherheit verlassen. Ein Richter, der Honecker freispricht, muß sich vorwerfen lassen, am faden Wortlaut der Gesetze zu kleben, dem Gerechtigkeitsgefühl vieler Menschen versagt zu haben. Ein Freispruch aber wäre ein Plädoyer für den Rechtsstaat. Julia Albrecht

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