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Der Graf als „Kirmes-Politiker“

■ Lambsdorff-Denkschrift für eine echt marktwirtschaftliche Regierungspolitik durchgefallen

Bonn (dpa/ap/taz) — Heftige Reaktionen aus der Regierungskoalition hat gestern eine Denkschrift von Otto Graf Lambsdorff provoziert, mit der der FDP-Chef am Vortag eine marktwirtschaftliche Kurskorrektur der Regierungspolitik einfordert. Bundeskanzler Helmut Kohl jedenfalls ließ sich gestern von den forschen Vorschlägen des Grafen nicht irritieren: Eine Kurskorrektur der „erfolgreichen Wirtschaftspolitik“ komme ebensowenig in Frage wie ein Sozialabbau bei der Gestaltung der deutschen Einheit. Kohl kritisierte Lambsdorff indirekt als „reinen Marktwirtschaftler“, der „die soziale Verpflichtung moderner Wirtschaftspolitik unterschätzt“.

Lambsdorff hatte in seiner Denkschrift unter dem Motto „Mut statt Mißmut“ ein Ende der „Politik im Geschenkkarton“ verlangt und vor einer Überforderung der Wirtschaft und des Staates durch hohe Tarifabschlüsse und überzogene Ansprüche an das Sozialsystem gewarnt. Alle politischen Anstrengungen müßten auf die innere Einheit Deutschlands konzentriert werden.

Bundesarbeitsminister Blüm reagierte mit scharfen Worten auf das Papier. Mit seiner Forderung nach einer Wende in der Sozialpolitik führe sich Lambsdorff „auf wie ein Rummelboxer. Mir geht seine Kirmes-Politik langsam auf den Geist“, erklärte der CDU-Politiker. Blüm warf dem FDP-Chef vor, mit seinen Äußerungen „den Leuten nur Angst“ zu machen.

Auch in seiner eigenen Partei erntete Lambsdorff massive Kritik. Eine Gruppe um den schleswig-holsteinischen FDP-Chef Wolfgang Kubicki kündigte für den FDP-Parteitag im Oktober ein eigenes Papier an, das im Gegensatz zu Lambsdorff mehr auf die sozialen Aspekte abzielt. Kubicki erklärte, Lambsdorff gehe in seinen Überlegungen „zurück in die 80er Jahre, um die Probleme der 90er zu lösen“. Mit Lohnverzicht könne ein Aufschwung im Osten nicht erreicht werden.

Der Vorsitzende der Christlich- demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), Ulf Fink, wertete das Lambsdorff-Papier als unsozial und schloß seine eigene Kritik der Regierungspolitik an: Nicht zu hohe Löhne oder zu niedrige Arbeitszeiten seien die Ursache für den schleppenden Aufschwung und die hohe Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland, sondern das falsche Wirtschaftskonzept der Bonner Koalition. Zudem habe die „unselige Regelung der Eigentumsfrage“ dazu geführt, daß in den neuen Ländern nichts zustande gekommen sei. Für beide Probleme seien FDP-Minister verantwortlich.

Der Präsident des Verbandes der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten und Sozialrentner (VdK), Walter Hirrlinger, warf Lambsdorff vor, dieser wolle die soziale Marktwirtschaft durch eine „brutale Marktwirtschaft ersetzen“. Hirrlinger kündigte entschiedenen Widerstand seiner Organisation an. Wenn Lambsdorff von einer verschwenderischen Sozialpolitik rede, sei das angesichts der sozialen Wirklichkeit in Deutschland eine Verhöhnung.

Der Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt, Manfred Ragati, bezeichnete Lambsdorffs Vorschläge als „sozialen Amoklauf im schwülen Sommerloch“. Die Armutsdiskussion habe eine neue Dimension erhalten: „Geistige Armut.“

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