Ringen um Normalität

■ Die Kreuzberger St. Jacobi Gemeinde in der Oranienstraße bietet Flüchtlingen, die Opfer rassistischer Übergriffe wurden, eine Zuflucht

Kreuzberg. »Wenn wir um Hilfe gebeten werden, versuchen wir Mittel und Wege zu finden.« Die St. Jacobi Gemeinde in der Oranienstraße hat schon viele Flüchtlinge beherbergt, die Opfer rassistischer Übergriffe wurden — egal ob sie aus Hoyerswerda oder den jugoslawischen Kriegsgebieten kommen. Seit mehreren Wochen leben in der Gemeinde zwei bosnische Flüchtlingsfamilien. Die vier Erwachsenen und drei Kinder — das jüngste ist ein, das älteste acht Jahre alt — waren aus ihrer Heimat Gorazde und Zvornik vertrieben worden. Nach monatelanger Odyssee gelangten sie mit Hilfe des kirchlichen Asyl-Arbeitskreises und des Büros SOS Rassismus in die Stadt an der Spree. »Sie ringen um Normalität, sind in Gedanken aber doch sehr in Jugoslawien«, weiß der Pfarrer der St. Jacobi Gemeinde, Peter Storck. Die Familien wohnen in einer vorübergehend leerstehenden Hausmeisterwohung über der Küsterei. Die Unterbringung ist auf größtmögliche Unabhängigkeit angelegt. Die rund 1.700 Mark, die die beiden Familien von der Gemeinde aus Spenden- und Kirchenmitteln für den einfachen Lebensunterhalt bekommen, können sie sich selbst einteilen. Das Gefühl, auf Almosen angewiesen zu sein, brauchen sie nicht zu haben, weil sie von der Gemeinde mit der Pflege des Gartens und Hausmeistertätigkeiten beauftragt wurden. »Die Unterbringung«, so Storck, »beruht auf gegenseitiger Hilfestellung.« Nachdem die Flüchtlinge der Gemeinde bei einem sonntäglichen Gottesdienst vorgestellt wurden, habe sich so mancher freundschaftlicher Kontakt entwickelt. Vor allem die Frauen, erzählt der Pfarrer, engagierten sich sehr, indem sie die Familien besuchten und ihnen Deutschunterricht erteilten. Der einjährige Junge und das fünfjährige Mädchen besuchten den Miniclub der Kirche. Das achtjährige Mädchen werde demnächst in eine Kreuzberger Schule gehen.

»Wir sind hier sehr zufrieden«, versichern die vier Erwachsenen in bruchstückhaftem Deutsch. Zufrieden, soweit man es in dieser Situation eben sein kann. »Ich schlafe sehr schlecht«, erzählt die Mutter der beiden kleinen Kinder und versucht mühsam die Tränen zurückzuhalten. Der Gedanke an ihren in Gorazde getöteten Vater und die schwerverletzte Mutter lasse sie nicht zur Ruhe kommen. »Wir wollen alle so schnell wie möglich zurück.« Der Tagesablauf der Erwachsenen sieht so aus, daß sie neben den Haushalts-, Garten- und Hausmeisterverpflichtungen unermüdlich Deutsch lernen, Spaziergänge machen und viel vor dem Fernseher sitzen. Jeden Abend um Punkt zehn Uhr finden sich alle vor dem von Gemeindemitgliedern gestifteten Kurzwellenempfänger ein und lauschen gebannt den Nachrichten aus Sarajevo. In den beiden Schlafzimmern der Familien sprechen die eng nebeneinandergelegten Matratzen Bände. Obwohl die Wohnung genug Platz für ein eigenes Kinderschlafzimmer böte, rücken alle nachts ganz dicht zusammen.

Die St. Jacobi Gemeinde hat schon vielen Flüchtlingen Zuflucht geboten. Zwei Ghanesen, die im vergangenen Herbst vor den rassistichen Übergriffen in Hoyerswerda nach Berlin flüchteten, kamen hier ebenso unter wie zwei Äthiopier. »Die beiden Äthiopier lebten vier Monate hier«, erinnert sich Pfarrer Storck. »Ihnen war in Sachsen das Heim über dem Kopf angezündet worden. Sie versteckten sich danach eine Weile im Wald.« Was der Pfarrer zu den rassistischen Übergriffen auf das Aslybewerberheim in Rostock sagt? »Das ist ein Verbrechen.« Storck warnt jedoch eindringlich davor, deshalb von einem »rassistischen Deutschland« zu sprechen, denn: »Es gibt eine starke gegenläufige Strömung, die das Zusammenleben verschiedener Kulturen als große Chance begreift.« Die Bereitschaft zu helfen, sei »viel größer, als unsere Politiker befürchten«. Die St. Jacobi Gemeinde ist dafür ein gutes Beispiel. Plutonia Plarre