: Zu Tausenden auf der Flucht
■ Vertreibungsaktionen des türkischen Staates zwingen Kurden zum Exodus
Cizre (taz) — Auf der Straße von Sirnak ins 40 Kilometer entfernte Cizre am Tigris ist seit Tagen ein regelrechter Exodus im Gange. Autos, Traktoren mit Anhänger, Lastwagen und Kleinbusse, vollgepackt mit Möbeln, Säcken und Menschen, passieren zu Tausenden den letzten Kontrollposten der türkischen Armee von Cizre. Was sie außer Reichweite der Soldaten erzählen, ist nahezu unglaublich. Demnach ist in Sirnak eine beispiellose Vertreibungsaktion der türkischen Sicherheitskräfte im Gange, die an das Flüchtlingsdrama der irakischen Kurden im April 1991 erinnert.
Über 500 Menschen, vorwiegend junge Männer, seien verhaftet worden. „Sie werden alle gefoltert“, erzählt einer, der gesehen haben will, daß die „Timler“, wie die Spezialeinheiten genannt werden, einen jungen Mann auf die Straße geworfen und ihm beide Augen ausgestochen hatten. Auf einem Traktoranhänger sitzt eine Frau mit sechs verängstigten kleinen Kindern. „Ihren Mann haben sie verhaftet und dann das Haus angezündet“, sagt ein Verwandter, „niemand ist geblieben, alle fliehen.“ Aber viele wissen nicht wohin. Die ersten Ziele für viele sind die nahegelegenen Kleinstädte Cizre und Silopi. „Für uns Kurden gibt es hier kein Recht und keine Menschlichkeit“, sagt ein Mann auf einem Traktor.
Auch die Dörfer um Sirnak seien systematisch entvölkert und angezündet worden. „In unserem Dorf Gecitboyu haben sie die ganze Weizenernte in Flammen aufgehen lassen“, meint ein alter Bauer ratlos. Er weiß von acht Dörfern, die in den letzten fünf Tagen verwüstet worden seien.
Ausländischen Journalisten ist die Weiterfahrt nicht gestattet. Der Soldat am Kontrollpunkt begründet dies gereizt: „Weil sie die Unwahrheit schreiben.“ Währenddessen kommen immer mehr Flüchtlinge auf der kurvigen Straße zwischen den Bergen hervor. Schweigend zeigen sie ihre Identitätskarte. Die herumsitzenden Soldaten machen ihre Späße mit ihnen. „Na, geht ihr nach Hause“, scherzt ein Unterfeldwebel. Die Antwort ist ein beredtes Schweigen. Dieter Balle
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