: Titanic-Untergang bei der SPD
■ SPD-Parteichef Engholm hält Grundgesetzänderung bis Weihnachten für möglich
Berlin (taz/dpa/AP) — Noch beflissener als die Sozialdemokraten kann eine Oppositionspartei kaum sein. Am Wochenende bemühte sich die SPD, es sowohl der Regierung als auch den Rechtsradikalen auf der Straße recht zu machen. Schon bis Weihnachten hält Parteichef Björn Engholm eine Grundgesetzänderung zum Asylrecht für möglich. „Wenn es nach uns geht, können wir das gesamte Gesetzespaket noch in diesem Herbst beraten, einschließlich einer möglichen Grundgesetzänderung“, sagte Engholm der Bild am Sonntag.
Nach dem Willen der SPD-Führung sollten künftig solche Ausländer kein Asyl mehr in der Bundesrepublik erhalten, die aus Gebieten und Staaten ohne Verfolgung stammten und keine oder bewußt falsche Angaben zur Person machten. Außerdem müsse geprüft werden, ob Asylbewerber, die schwere Straftaten begingen, „sofort rausfliegen“.
In der selben Zeitung meldete sich auch Kanzler Helmut Kohl zu Wort. Er kündigte an, den Druck auf FDP und SPD zu verstärken, um die Grundgesetzänderung schnellstens durchzusetzen. Kohl schrieb in einem Gastkommentar, bei den ausländerfeindlichen Krawallen in Rostock sei erneut klar geworden, daß die demokratischen Parteien den Mißbrauch des Asylrechts eindämmen müßten.
CDU-Generalsekretär Peter Hintze assistierte seinem Kanzler und griff Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger an. Die FDP-Frau hatte davor gewarnt, mit der Asyl-Diskussion auf die ausländerfeindlichen Krawalle zu reagieren. Sie habe derzeit außerdem den Eindruck, es gehe um „eine Änderung um jeden Preis“, ohne daß konkrete Vorschläge für eine Neuregelung des Asylrechts vorgelegt würden.
Ähnlich äußerte sich der stellvertretende Vorsitzende der Unionsbundestagsfraktion, Heiner Geißler. Die Politik drohe in der Asyl- und Flüchtlingsfrage in eine neue „Glaubwürdigkeitskrise“ zu geraten. Die Menschen gewönnen den falschen Eindruck, das Grundgesetz müsse nur geändert oder ergänzt werden, dann sei das Flüchtlingsproblem gelöst.
Der hessische Umweltminister und Grünen-Politiker Joschka Fischer warf Union und SPD vor, in der Asylpolitik „Gefangene der Rechtsradikalen“ zu sein. Er lehnte die angestrebte Änderung des Asylgrundrechts ab. Eine solche Änderung beließe am Ende nur ein staatliches Gnadenrecht.
Nicht nur in der Zeitung übte sich Engholm im Dialog mit dem Kanzler. Am Wochenende signalisierte er seine grundsätzliche Bereitschaft, mit Kohl über „nationale Aufgaben“ zu reden. Eine solche Begegnung sollte auf der Ebene der Parteivorsitzenden stattfinden. Eine große Koalition zwischen Union und Sozialdemokraten schloß Engholm derzeit aus. Dafür müsse es schon „eine Titanic-Situation geben, und daß wir wirklich kurz vorm Kentern sind. So weit ist es nicht.“ Eine andere Situation könnte aber nach der Bundestagswahl 1994 gegeben sein.
Auch bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität zeichnet sich eine Annäherung der Positionen von Union und SPD-Opposition ab. Engholm sprach sich für den Einsatz verdeckter Ermittler sowie für den Einbau von versteckten Abhöranlagen und Überwachungskameras aus. Er sei bereit, „mehr staatliche Härte walten zu lassen, als das anderen— auch in meiner Partei — lieb ist“. Doch langsam wird Kritik gegen Engholms Führungsstil laut. Die Jungsozialisten und die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen (ASF) schalten das Vorgehen der SPD-Spitze. Die Basis dürfe bei einer Abkehr von Parteitagsbeschlüssen nicht übergangen werden, sagte die ASF-Vorsitzende Karin Junker. Juso-Chef Ralf Ludwig erklärte, ein „handverlesener Kreis von 15 Spitzengenossen“ sei zu Entscheidungen dieser Art nicht befugt. Beide forderten einen Sonderparteitag noch in diesem Herbst.
Länderlisten von Nichtverfolgerstaaten lehnten sie ab, da diese nur drei Prozent aller Asylbewerber beträfen. Die SPD-Frauen treten außerdem dafür ein, die im Grundgesetz vorgesehenen Fluchtgründe auf frauenspezifische Verfolgung auszudehnen. Zum Vorhaben, Personen, die falsche Angaben machten, vom Asylverfahren auszuschließen, erklärte Ludwig, dies werde den Aufbau neuer Bürokratien zur Folge haben. Den Kurswechsel der Partei- und Fraktionsspitze ohne Diskussion mit der Basis nannte Ludwig „undemokratisch“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen