: Svetlana Slapsak: Gibt es überhaupt serbische Alternativen?
■ Sollen doch die Nationalisten für einen Machtwechsel in Belgrad sorgen
Mit meiner Meinung werde ich wahrscheinlich allein auf weiter Flur stehen, aber ich bin noch immer davon überzeugt, daß der Krieg in Jugoslawien ein Krieg der Worte, ein Propagandakrieg, ein Krieg von Stereotypen ist, in dem leider lebende Menschen getötet werden. Die Intellektuellen haben sich die Wörter ausgedacht und sie ausgesprochen; anschließend wurden sie im politischen und gesellschaftlichen Diskurs „recycelt“. Nur Wörter konnten eine multinationale und multikulturelle Gesellschaft zerstören, wie es die ehemals jugoslawische war. Als das Gleichgewicht im gesellschaftlichen Diskurs durch die Erfindung eines kollektiven Feindes für die kollektiven nationalen Wesen zerstört war, wurde es möglich, mit der Vernichtung der multinationalen Institutionen zu beginnen. Diese Arbeit ist noch längst nicht vollendet, nicht einmal in Slowenien.
Wenn ich von „Institutionen“ spreche, dann denke ich an alle präventiven staatlichen Mechanismen, welche die multinationale Kultur bewahrt haben um den Preis von Regeln, die nicht allen gefallen mußten. Jugoslawien besaß beispielsweise keine Staatssprache, sondern sechzehn gleichberechtigte offizielle Sprachen. Alle hatten, vor allem in politischen Gremien und vor Gericht, ein Recht auf Übersetzung in die Muttersprache; das Fernsehen und das Radioprogramm waren systematisch sprachlich gemischt, dazu kamen noch lokale Minderheitenprogramme. Manchmal kam man für eine Arbeitsstelle nicht in Frage, weil in einem bestimmten Gebiet das nationale Gleichgewicht aufrechterhalten werden mußte. Oft war die Qualität den Regeln des Gleichgewichts der Nationalitäten und Minderheiten untergeordnet. Nur die Armee gab ihre Kommandos in einer Sprache, der serbokroatischen. Was die heutigen Versuche betrifft, das Serbische und das Kroatische sprachlich voneinander zu trennen, so haben die besten Linguisten beider Seiten gesagt: Erst wenn jemand nachweist, daß ein Subjekt, das serbisch und kroatisch spricht, zweisprachig ist, kann man legitimerweise darüber sprechen.
Diese Mechanismen waren nur durch rohe Gewalt und die starke ideologische Sprache des Nationalismus zu zerstören — eine stärkere und vulgärere als die vorhergehende. Heute gibt es ein Bedürfnis nach Kampf gegen den Rassismus in Slowenien, gegen Staatszensur und radikale Einschränkung der Menschenrechte in Kroatien, gegen extremistische Forderungen in Serbien, gegen nationale Vereinheitlichung in Makedonien und auf dem Kosovo. Überall fällt es sehr schwer, sich mit weniger zufriedenzugeben, als man früher hatte, und es ist fast unmöglich, Minderheiten jene Rechte zu entziehen, die sie früher hatten, auch dann, wenn manche sie als Privilegien bezeichnen.
Die Vernichtung des Kommunismus in Jugoslawien war nur eine Ausrede, um das staatliche System einer gewissen zwischennationalen Toleranz und eines gemeinsamen Lebens zu zerstören, bei gleichzeitiger realer Einschränkung der Redefreiheit. In dieser Hinsicht ist Tudjman nicht weniger Kommunist als Milosevic. Nur durch Krieg und allgemeine Angst ließ sich das multinationale jugoslawische System zerstören, das viele, aber nicht alle Schrecken der kommunistischen Systeme in Osteuropa und anderswo besaß. Das wird jetzt in Bosnien-Herzegowina deutlich: Menschen werden getötet, Städte zerstört, weil die Menschen zusammenleben und weil sie weder Separatismus noch die Ausarbeitung neuer Landkarten als einzige Lösung akzeptieren wollten.
Die endgültige Bestialität des Krieges, die bei allen beteiligten Seiten zu finden ist, basiert auf einigen Texten. Diese Texte wurden den Kriegsbefürwortern von den Intellektuellen geliefert. Man dachte sich imaginäre Tschetniks und Ustaschas aus, bis sie sich in paramilitärischen Einheiten „materialisiert“ hatten. Der konstitutive Text der Armee, der „Text von den Partisanen“, läßt sich in der Hauptstrategie der Armee wiedererkennen: Sie kämpft gegen den einzigen ihr bekannten Feind, den Partisan, den Guerillero, und zwar so, daß sie jede materielle Grundlage dort vernichtet, wo er sich festsetzen könnte — also zivile Objekte, Zivilisten als natürliche Helfer, das urbane Milieu. Das surrealistische Projekt, das in der serbischen Literatur so wichtig ist, wurde Wirklichkeit. Die Literatur wurde Leben. Es geschah das Schlimmste, was einem Autor geschehen kann, nämlich daß jemand mit seinen Worten auf den Lippen umkommt.
Das nationale Programm, der grundlegende Text der Intellektuellen um die Akademie der Wissenschaften und Künste und den Schriftstellerverband, zwei Institutionen, die zur Kriegshetze beigetragen haben, zeigt eine ungewöhnliche Eigenschaft: Es ist ein geheimer Text. Beide Institutionen haben sich, als der jeweilige Text der Öffentlichkeit zugänglich wurde, beschwert, daß er gestohlen und gegen den Willen der Autoren oder zumindest ohne ihr Einverständnis veröffentlicht worden sei. Diese Intellektuellen brauchten kein klares Programm, sondern die Regeln einer Sekte, keinen rationalen Diskurs, sondern ein heiliges Geheimnis. Aus dieser Perspektive betrachtet, wird klar, warum in der Öffentlichkeit die überladene lyrische Sprache ohne Information die Stelle eines Programms eingenommen hat, das man kritisieren könnte. Der Raum war offen für ungewöhnliche Texte.
Der Autor Radovan Smiljanic, der sich als jemand ausgibt, der in Deutschland besonders gut bekannt ist, hat 1989/90 seine Ausgabe von Hitlers „Mein Kampf“ besorgt, wobei er seine Unternehmung damit rechtfertigte, daß es den Nachweis zu führen gelte, die Slowenen seien Faschisten. Die Akademie hat am meisten zur Verringerung der Qualität des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurses beigetragen; sie hat damit ihre traditionelle Rolle verraten, indem sie die öffentliche Kritik an Unwissenschaftlichkeit und Scharlatanerie abgeschafft hat. Sie organisierte eine Reihe von pseudowissenschaftlichen Kongressen mit vielen rein politischen Beiträgen ohne wissenschaftlichen Wert und hat offen mit der herrschenden Politik gemeinsame Sache gemacht.
Im Unterschied zur Akademie, die sich nie besonders für Dissidenten eingesetzt hat, stellten die Schriftsteller in der Mitte der achtziger Jahre eine relativ kompakte Gruppe von „antistaatlichen“ Elementen dar. Die Nationalisten unter den Schriftstellern, die letzten, die sich zu den Dissidenten gesellt haben, nutzten sehr schnell die Energie dieser Gruppe aus und schlossen sie zum größten Teil der nationalistischen Bewegung an. Ich teile die Dissidenten in zwei Gruppen ein: die distanten, die das auch der nationalen Politik gegenüber geblieben sind, und die instanten, die das Verhaltensmodell aus dem alten Regime wiederholt haben. Das brachte als Folge der Angst auch eine sichtbare Verarmung der literarischen Verfahren und der Kriterien der Kritik mit sich sowie eine allgemeine literarische Retardierung, bei schnellem Verfall von Wissen, Neugier und Kommunikation mit der Welt.
Der Vorsitzende des serbischen Schriftstellerverbandes, Dichter und Akademiemitglied Matija Beckovic, ist Schöpfer einiger der schockierendsten Stereotypen: die Serben als zur Hälfte abgeschlachtetes Volk, die Fahne im Magen des serbischen Soldaten vergraben, serbische Knochen überall bis hin zu seinem Vorschlag, in Belgrad ein Denkmal zu errichten, in dem in Glas und Beton die Knochen aller ermordeten Serben ausgestellt wären usw. Am armseligsten wirkt jedoch die hartnäckige und laienhafte Berufung auf die Orthodoxie, ohne jedes Wissen, ohne Lektüre, ohne Reflexion der Evangelien. Die Analyse der Texte Beckovic' zeigt, daß die Modelle ausnahmslos aus der kommunistischen Rhetorik übernommen worden sind, besonders aus dem Genre „Schmeichelgeschichten über Tito“, und grob auf die neuen Idole übertragen wurden — auf serbische Heilige, Könige oder auf die Kollegen Nationalisten.
Ein zweiter berühmter Schriftsteller, der neue Staatspräsident Dobrica Cosic, war ein privilegierter Liebling des Tito-Regimes, dann bedingt Dissident, ein milder und später Kritiker des toten Zaren, und der Schöpfer des Stereotyps, wonach die Serben im Krieg gewinnen und im Frieden verlieren. Dieser Prosaist, der in seinem letzten Roman (über die Heimsuchung durch den Bolschewismus natürlich) Caesar vor der Ptolemäus-Statue im Senat umbringt und das dem Tertullian zugeschriebene Zitat als „Credo quia ad absurdum“ zitiert — vielleicht handelt es sich auch nicht um den gleichen Autor, denn Tertullian wird als Quertullian angeführt —, ist die Hauptstütze des Regimes Milosevic unter den Intellektuellen.
Das dritte Beispiel ist der weltweit übersetzte und bekannte Milorad Pavic, der die surrealistische Metapher erneuert hat und der die komplizierte Konstruktion seines Romans „Das Chasarische Wörterbuch“ benutzt hat, um die serbischen Leiden in hochstilisierter Form zu beweisen. Der Autor, der sich vor zehn Jahren seiner kroatischen Abstammung und seiner aristokratischen Herkunft gerühmt hat, der 1968 auch die Dissidenten vulgär nannte, nützt sein Ansehen als Schriftsteller von irrealer Prosa und bringt in seine neuen Romane die ekelhaftesten Stereotypen: „Die Serben verzeihen, aber sie vergessen nicht“, und ähnliches.
Im vergangenen März hat er in einem Inverview mit der Village Voice erklärt, indem er seinen Roman zitierte, Demokratie sei „für den Arsch“. Vor kurzem hat er auch vorgeschlagen, daß Vukovar, die schöne Barockstadt, die nicht mehr existiert, im „serbisch-byzantinischen“ Stil wiederaufgebaut werden sollte.
Ernster ist das Problem jener Dissidenten, die parlamentarische Oppositionsparteien in Serbien gebildelt haben. Weil sie mit Milosevic im Nationalismus wetteifern, haben diese Menschen nie etwas gegen den Krieg gesagt. Micunovic, der Führer der Demokratischen Partei, hat sogar einmal erklärt, daß man dem Krieg „einen Sinn geben“ müsse. Wegen einer solchen politischen Haltung mußte sich eine außerparlamentarische Opposition bilden, was einerseits ein nötiger moralischer Akt war, der auf Pazifismus basiert, andererseits jedoch jedes Projekt, Milosevic zu stürzen, ernsthaft bedroht hat. Das Beispiel von Vuk Draskovic, der von äußerstem Nationalismus zu einem noch ungenügend definierten Pazifismus gekommen ist und damit nach einigen Schätzungen die Hälfte der Mitglieder seiner Partei verloren hat, zeigt, daß Änderungen möglich sind. Es zeigt aber ebenso, wie unangemessen das gegenwärtige Verhalten der Opposition ist, die sich darauf beschränkt, mit den Kriegsfolgen und nicht mit dem Krieg selbst unzufrieden zu sein.
Es ist charakteristisch, daß die heutige pazifistische Opposition, die „Opposition zur Opposition“, nach Zahl und Aktivität vor allem von Gymnasiasten und Alternativen aus der Welt von Theater, Medien und Rockmusik gebildet wird, also von Menschen, die der Definition nach oder durch bewußte Entscheidung außerhalb der prestigeträchtigen sozialen Stukturen stehen. Ein besonderes Problem bei der Bildung einer mehr oder weniger toleranten Front zur Rettung Serbiens bildet die absolute Unvereinbarkeit der Alternativen und der Intellektuellen, die Milosevic erst dann ablehnen, wenn klar ist, daß er fallen wird, und die bereit sind, sich mit einer neuen Regierung zu arrangieren. Die Differenzen zwischen enttäuschten Nationalisten und konsequenten Pazifisten sind so groß, daß auch Prognosen über Formen von Bürgerkrieg plausibel sind.
Die Unfähigkeit der einstigen Dissidenten, konkrete politische Aufgaben zu übernehmen, wird klar, wenn man weiß, daß es in Belgrad nicht eine einzige bedeutende kulturelle Einrichtung gibt (von denen viele vor Milosevic ausgesprochen dissidentisch waren), die heute auf ihrer Seite wäre: Alles haben die nationalen Intellektuellen besetzt. Die listige Politik des Regimes, die ein oder zwei Ventile in den Medien erlaubt hat, welche es aber streng auf Belgrad beschränkt und in ständiger Unsicherheit hält, hat zu einer Situation geführt, in der die außerparlamentarische Opposition und ihre Führer sagen können, was sie wollen. Wegen der vollkommenen Unterdrückung und der Unmöglichkeit von echter Einflußnahme wird ihr Diskurs immer autistischer, belastet von ihrer persönlichen Lage und der Lage der Medien, in denen sie sich zu Wort melden.
Jede Woche können die Pazifisten hunderttausend Menschen auf die Straße bringen, was eine eindrucksvolle Zahl ist, wenn man bedenkt, daß aus Serbien etwa dreihunderttausend vor allem junge und hochqualifizierte Menschen geflohen sind, und wenn man die hoffnungslose soziale Situation Belgrads betrachtet — Arbeitslosigkeit, Isolation und Armut. Und dennoch kann die außerparlamentarische Opposition ohne die einstige jugoslawische Unterstützung und Kommunikation nicht viel ausrichten. Gerade in Bosnien-Herzegowina saßen die Hauptstützen dieser Opposition. In mancher Hinsicht besteht mit dem Tod von Sarajevo auch Belgrad nicht mehr.
Das „andere“ Serbien wird in aller Öffentlichkeit einen schmerzhaften und qualvollen Prozeß durchlaufen müssen: Reue, Anerkennung der Fehler und Verbrechen, Verfolgung der Kriegsverbrecher — das ist die einzige Art und Weise, wie Serbien wieder einen Hauch von Selbstachtung erlangen kann. Die Wahl von Dobrica Cosic, der bereits mehrere Male in der Öffentlichkeit die Friedensdemonstranten scharf angegriffen hat, ruft in mir große Angst hervor. Es klingt zwar paradox, doch für die Durchführung eines Programms der serbischen Reue und des Umdenkens würde ich meinen pazifistischen Freunden eher raten, den Machtwechsel den Nationalisten zu überlassen und auf keinen Fall mit den Prätorianern zusammenzuarbeiten, die jetzt den Kaiser austauschen wollen. Mit einem solchen Manöver wäre das Leben jener Menschen zu schützen, die allein imstande sind, Selbstkritik zu betreiben. In diesem Sinne decken sich die Ratschläge der orthodoxen Kirche (wenigstens einer Strömung in ihr) mit dem, was ich vorschlage. Damit identifiziere ich mich nicht mit der serbischen orthodoxen Kirche, sondern will nur die Notwendigkeit einer moralischen Reaktion betonen, die allein eine aktive politische Zukunft sichern kann.
Aus dem Serbokroatischen von Alida Bremer; Copyright by Wieser Verlag 1992, Klagenfurt
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