: Beklemmende Ruhe liegt über Sirnak
Besuch in der von der türkischen Armee zerstörten kurdischen Stadt/ Viele Einwohner aus der Region sind geflohen und wurden in der Nachbarstadt Cizre aufgenommen/ „Es waren deutsche Panzer, die uns beschossen haben“ ■ Aus Sirnak Dieter Balle
Die Straßen der noch vor zwei Wochen nahezu 40.000 Einwohner zählenden Provinzhauptstadt im äußersten Südosten der Türkei sind menschenleer. Nur wenige Autos passieren die Straßensperren von Polizei und Militär am Stadtrand. Nur vereinzelte Häuser sind noch bewohnt. Eine beklemmende Ruhe liegt über der Stadt. Sirnak ist das vorläufig blutigste Kapitel in dem andauernden Krieg zwischen der Kurdenguerilla PKK und der türkischen Armee — die Opfer sind jedoch fast ausschließlich Zivilisten.
„48 Stunden lang wurde aus allen Rohren in die Häuser geschossen“, erinnert sich ein Kurde an den Panzereinsatz vom 18. August. Über 100 Tote, vor allem Frauen, Kinder und Alte, Hunderte von Verwundeten — diese Bilanz bestätigt auch der Bürgermeister der 40 Kilometer entfernten Nachbarstadt Cizre.
Wer fliehen konnte, ist geflohen. Nahezu alle Häuser sind von Einschüssen durchlöchert, in vielen fehlen ganze Wände. Nicht eine heile Scheibe ist zu finden — außer in den öffentlichen Gebäuden und den Polizei- und Militäreinrichtungen. Wie das? Hat nicht laut amtlicher Version die PKK die Stadt angegriffen? Der Gouverneur von Sirnak, Ünal Erkan, der diese Frage beantworten könnte, ist nicht zu sprechen.
Plötzlich jagen unter ohrenbetäubendem Lärm F-16-Kampfflugzeuge über die Stadt. Weiße Rauchwolken steigen hinter den Bergen auf: Die Luftwaffenbombardements gegen die Dörfer um Sirnak gehen weiter.
Anhalten ist nicht erlaubt. Im Schrittempo fährt der Besucherbus durch die Stätten der Zerstörung — Sirnak, eine Geisterstadt. In Cizre, dem Grenzstädtchen in der Ebene, ist es dafür viel voller: Etwa 5.000 Flüchtlinge aus den Bergen haben sich hierher gerettet. Bürgermeister Hasim Hasimi hat mit engagierten Bürgern ein Hilfskomitee gegründet. Man sammelt, wie in Diyarbakir, Adana und anderswo, Lebensmittel und Geld; Tomaten, Obst und Brot werden auf der Straße verteilt. Alle Flüchtlinge konnten von Familien aufgenommen werden. Weiter oben in den Bergen müssen tausend in Zelten kampieren. Der Staat helfe nicht, meint Hasimi bitter lächelnd; es seien ja seine Soldaten, die das Elend angerichtet hätten.
„Es waren deutsche Panzer, die uns beschossen haben“, erzählen Flüchtlinge aus Sirnak immer wieder. Die Granaten der Leopard-2- Panzer hätten die Riesenlöcher in die Häuser geschossen. Zurück will kaum jemand. „Wie können wir die Brüder der Türken sein“, meint einer, „wenn das türkische Volk zuschaut, wie sie uns ausrotten?“
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