: Gegenwartsschrumpfung?
■ Erste Meldungen von der „Aktualität des Ästhetischen“ aus Hannover
Was ist ein Kongreß, schon gar ein internationaler? Einst galten Kongresse als Orte wissenschaftlichen Austausches. Längst ist aber bekannt, daß Kommunikation zwischen den Referenten und ihren Kollegen beim Kaffee auf den Gängen stattfindet. Nein, große internationale Tagungen haben einen anderen Zweck: Sie sind Orte der Repräsentation. Sie dienen der Selbstdarstellung eines Faches oder dokumentieren den Stand des Bewußtseins, den Geist der Zeit, wie er sich im Brennpunkt einer besonderen Problematik findet. Kongresse gehören in das Ressort Öffentlichkeitsarbeit, und das ist ja auch prinzipiell nicht schlecht so. An ihnen erkennt man den Zustand einer Disziplin.
Die Stiftung Niedersachsen ist bekannt für monströse Veranstaltungen frei nach dem Motto „Nicht kleckern, sondern klotzen“ (zum Beispiel 1988 zum Thema „Natur und Geist“). Zur Zeit ist sie Träger eines Kongresses, der mit annähernd 2.000 Teilnehmern in Hannover unter dem Titel „Die Aktualität des Ästhetischen“ stattfindet. Programmatischer kann man sich kaum geben. Es wäre nun zwar berechtigt, aber dennoch etwas billig, sich über diesen Titel zu mokieren. Denn daß das „Ästhetische“ ein Allerweltsbegriff ist, der sich auf die gefällige Verschönerung des Alltags, auf eine Philosophie der Kunst, eine Theorie der Wahrnehmung oder auch noch etliches andere beziehen kann, ist den Veranstaltern selbst schon aufgefallen. Sie sehen das nicht als Mangel, sondern als Vorzug.
Wolfgang Welsch, Mitglied der sogenannten wissenschaftlichen Koordinierungsgruppe, benannte dann auch in seinem Einleitungsvortrag diese Vielzahl der Möglichkeiten, um sie auf den Wittgensteinschen Begriff der „Familienähnlichkeit“ zu bringen. Die verschiedenen Ausformungen des Begriffs lassen sich nicht durch ein allen Gemeinsames definieren (wie der Elefant durch seinen Rüssel), sondern bezeichnen eine Vielzahl von Bedeutungen, die untereinander auf mannigfaltige Art und Weise verknüpft sind. Der Begriff bezeichnet nicht ein Wesen, sondern die Summe mehrerer Überschneidungen. Alle Bedeutungen von „ästhetisch“ hängen also auf eine untergründige Weise miteinander zusammen. Was als Beliebigkeit denunziert werden könnte, wird positiv aufgewertet und als pluralistisch nobilitiert.
Dennoch scheinen die Formen des Ästhetischen zumindest eines gemeinsam zu haben: daß sie nämlich aktuell sind. Glaubt man allerdings diesem Titel, so ist der Eindruck nach den ersten anderthalb Tagen halbwegs niederschmetternd. Das Ästhetische, das uns hier von den allermeisten Referenten geboten wird, ist so aktuell wie die berühmte Eule der Minerva, eine Eule allerdings, die selbst noch die Dämmerung verschlafen hat und nun zu einem Nachtflug gestartet ist.
Ärgerlich ist dabei nicht so sehr, daß man hier alles, was in der Ästhetik-Szene gut und teuer ist, versammelt hat, auf daß ein jeder zum 125.Male seine greatest hits präsentiere. Daß jeder seine intellektuellen Vorräte sparsam bewirtschaften muß, dafür sollte man im Zeitalter unabläßlichen Produktionszwangs Verständnis haben. Ärgerlich ist vielmehr, daß dies größtenteils im Stile populistischer Anbiederung passiert. Alle sind bemüht, sich von dem längst zu Tode traktierten Popanz der Lifestylekreaturen zu distanzieren, in geschliffener Rhetorik und mit sardonischem Lächeln über die „Aufsteiger erster Klasse“ herzuziehen, die sich „alert, geschliffen und perfekt gestylt von der Krawattennadel über die Rhetorik bis zum sardonischen Lächeln“ (Welsch) präsentieren. So, als könnte der eigene verwaschene Ansatz durch solche Standardpolemik an Prägnanz gewinnen.
Einer der größten Entertainer ist ohne Zweifel der unvermeidliche Hermann Lübbe. Er beglückte uns mit einem Vortrag über „Zeit“, der die Lacher auf seiner Seite hatte. Hat er sich doch auch einen schönen Begriff ausgedacht. Er redet von „Gegenwartsschrumpfung“ und meint damit, daß unsere Erzeugnisse immer schneller veralten. War die Halbwertzeit der wissenschaftlichen Literatur in bestimmten Naturwissenschaften vor einiger Zeit noch etwa sieben Jahre, ist man nun schon bei nur zwei bis drei Jahren. Dieses Phänomen läßt sich auch an der Kunst zeigen. Das beste Beispiel für die große Wahrheit seiner These ist jedoch Lübbes Vortrag selbst, der schon veraltet war, bevor er noch geschrieben wurde. Nicht nur daß er meint, dem gefallenen Sozialismus en passant noch einmal hinterhertreten zu müssen — dafür ist er Hermann Lübbe, ohne das würde man etwas vermissen —, wichtiger ist, daß solche Lamentos über die Beschleunigung der Zeit vor Jahren sogar schon im Spiegel zu lesen waren.
Der kulturelle Höhepunkt des ersten Tages war dann Michael Schirner, der für seine Projektagentur unverhohlen Werbung schieben durfte. Sein Vortrag gliederte sich immerhin klar in drei Teile: 1) Ich, 2) Gott, 3) Signaturen — in dieser Reihenfolge.
Bei alledem mutete Karl Heinz Bohrers knorrziges Plädoyer für die Grenzen des Ästhetischen — ob man es nun mit seiner „Selbstreferenz“ halten will oder nicht — nachgerade wohltuend an. Doch darüber an dieser Stelle demnächst mehr. Rüdiger Zill
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